„Wir können nicht auf Erzählungen verzichten.“

© Julia von Vietinghoff

Der Autor Philipp Schönthaler über computergenerierte Gedichte, wie Künstliche Intelligenz unsere Sprache auswertet und warum Maschinen nicht literarisch erzählen können.   

Philipp Schönthaler, im Januar ist Ihr Buch „Die Automatisierung des Schreibens“ erschienen. Darin zeigen Sie, wie Maschinen das literarische Schreiben seit Beginn des 20. Jahrhunderts verändern. Sie gehen zurück bis Futurismus im frühen 20. Jahrhundert, also lange bevor der Computer erfunden war. Welche Rolle hat die Automatisierung damals gespielt?
Dort war die Verbindung zwischen literarischem Schreiben und Maschine noch recht lose und assoziativ. Es ging weniger um die Arbeit mit tatsächlichen Maschinen, sondern die Maschine diente vor allem als Metapher. Der italienische Schriftsteller Filippo Tommaso Marinetti imaginierte beispielsweise den Dichter auf dem Flugzeug sitzend, wie er sich vom Takt des Propellers eine neue Syntax diktieren ließ, die schnell war, auf vieles verzichtete. Die computergenerierte Literatur in den 1950er und 60er Jahren konnte an die frühen Avantgarden anknüpfen, wichtig war insbesondere deren Affinität zur Technik, außerdem lieferten sie eine Begründung für Texte, die grammatikalische Konventionen und Sinnerwartungen unterliefen.

Vor 60 oder 70 Jahren waren Computer riesige Maschinen, zu denen der gewöhnliche Mensch gar keinen Zugang hatte. Was für Texte wurden mithilfe solcher digitalen Ungetüme generiert? 
Die Ergebnisse des computergenerierten Schreibens in den fünfziger und sechziger Jahren blieben recht überschaubar, die entstandenen Texte rudimentär. Es waren vor allem Gedichte, die vom Computer aus einzelnen Wörtern kombinatorisch zusammengesetzt wurden. Man brauchte also einen Korpus von Daten und bestimmte Regeln, nach denen der Computer die Wörter per Zufall auswählte und syntaktisch aneinanderreihte. Oft ergaben die so entstandenen Texte nicht wirklich einen Sinn. Das wurde poetologisch begründet, fiel aber auch deshalb nicht weiter ins Gewicht, weil die Theorie über die Gedichte wichtiger als diese selbst waren.

Was wollten die Autoren mit ihrer Computerliteratur zeigen?  
Nach den Erfahrungen des Nationalsozialismus und des zweiten Weltkriegs suchten Schriftstellerinnen und Schriftsteller nach einem neuen Fundament für eine unbeschadete Sprache. In Deutschland war Max Bense eine der Hauptfiguren dieser Strömung, die versuchte, die Literatur mit Hilfe des Computers neu zu begründen. Die Rückführung der Literatur und Sprache auf rationale, objektive und mathematische Prinzipien sollte sie vor allem auch gegen subjektive und ideologische Fehltritte immunisieren – die Schwäche des Subjekts war ein wesentlicher Grund, den Bense für die Abirrung in die nationalsozialistische Ideologie verantwortlich machte. Davon ausgehend entwickelt Bense das Ideal „subjektloser Sätze einer subjektlosen Poesie“ – deshalb konnte und sollte das Schreiben auch an Computer delegiert werden, weil sie angeblich neutral und objektiv waren. Ende der sechziger Jahre endete diese Phase aber schon wieder, mit Vietnamkrieg und Studentenprotesten hatten sich die emanzipatorischen Hoffnungen in den Computer vorerst erledigt.

Heute durchwirkt das Digitale unsere Welt. Wie beeinflusst es literarisches Schreiben?
Der Computer hat während seiner Entwicklungsstufen immer wieder neue Formen von Literatur hervorgebracht, die ihren Ursprung im Prinzip des Digitalen oder digitalen Medien haben. Onlineforen boten etwa die Möglichkeit, dass Leserinnen und Leser an einem Text mitschreiben oder diesen im Schreibprozess kommentieren konnten. Das kann ich als Autor aufnehmen und meinen Text verändern. Seit einigen Jahren erlebt erneut die computergenerierte Literatur eine Renaissance, die vom Prinzip her ähnlich wie die frühe Computerliteratur aufgebaut ist, inzwischen aber komplexer ausfällt und besser funktioniert. Beispielsweise werden Chatverläufe nach bestimmten Worten oder Mustern durchsucht und daraus dann ein Text generiert. In Anlehnung an die Konzeptkunst der Sechzigerjahre spricht Hannes Bajohr von einem Konzept, das dann in ein Programm überführt wird, das den Text generiert. Das Konzept ist meist genauso wichtig wie der Text selbst und wird bei der Rezeption mitgelesen.

Im Alltag ist die Spracherkennung durch Künstliche Intelligenz (KI) längst angekommen. Beeinflussen Siri und „Hey Google“ auch das literarische Schreiben?
Es ist glaube ich kaum festzumachen, wie solche Systeme das literarische Schreiben beeinflussen, es sei denn, ich nehme Sprachsoftware bewusst zum Ausgangspunkt, um Texte zu verfassen. Mich interessiert daher ein anderer Aspekt. Dank der maschinellen Sprachsysteme kann ich zwar besser in der natürlichen Sprache mit Computern interagieren, die Software versteht die Sprache aber nicht, sondern analysiert sie nach statistischen und wahrscheinlichkeitstheoretischen Parametern. Deshalb können meine Worte und Sätze zu Datenspendern werden, die Informationen abwerfen, die jenseits der Sinnebene und dem liegen, was ich zu sagen beabsichtige. Beispielsweise können über die Tonalität der Stimme oder den Gebrauch bestimmter Wortkombinationen Emotionen oder psychische Erkrankungen abgelesen werden. Über die Schreibgeschwindigkeit, die Art der Wortwahl und andere Merkmale findet also eine Auswertung statt. Der springende Punkt liegt meines Erachtens darin, dass die digitalen Systeme von verhaltensbasierten Subjekten ausgehen und sie hervorbringen. Das hermeneutische Subjekt, das sich selbst und die Welt primär über die Sprache und Sinnfragen erschließt, wird in der digitalen Sphäre bedeutungslos.

Es gibt bereits Versuche, fiktionale Texte per KI zu generieren. Könnten Computer bald den menschlichen Schriftstellerinnen und Schriftstellern Konkurrenz machen?
Bislang ist das nicht absehbar, weil die Programme noch daran scheitern, in langen Texten – wie beispielsweise Romanen – Kohärenz und Konsistenz zu erzeugen. Wichtiger ist meines Erachtens aber, dass die Frage, ob es gelingt, menschliche Schreibweisen zu simulieren oder zu ersetzen, Entscheidendes übersieht. Beim Schreiben und Programmieren handelt es sich um zwei unterschiedliche Techniken, über die ich einen jeweils anderen Zugriff und Blick auf die Welt und auf Menschen bekomme. Wenn ich ausgehend vom Programmieren danach frage, was Denken, Schreiben oder der Mensch ist, werde ich woanders landen, als wenn ich dieselben Fragen ausgehend vom Schreiben adressiere. Das gilt auch deshalb, weil ich in der natürlichen Sprache die Fähigkeit habe, auch über die Sprache selbst zu schreiben, also eine Metaposition einzunehmen. Das ist in einer Programmiersprache per Definition nicht möglich, weil es sich um eine Anweisungssprache handelt. Ähnliches gilt für Erzählungen, zumindest wenn ich davon ausgehe, dass es im Erzählen auch immer darauf ankommt, den Akt des Erzählens selbst zu reflektieren.

Philipp Schönthaler, 1976 in Stuttgart geboren, erhielt 2012 für sein Erzähldebüt „Nach oben ist das Leben offen“ den Clemens-Brentano-Preis. Er veröffentlichte Essays, Erzählungen und Romane. Philipp Schönthaler lebt in Berlin.