„Schreiben heißt: von sich erzählen.“

Foto: Alberto Novelli

Die Schriftstellerin Franziska Gerstenberg über den Trend zum Autobiographischen, das Eigene im fiktionalen Text und die Frage, warum beim lebendigen Schreiben die Gedanken zählen, nicht die Erlebnisse.  

Franziska Gerstenberg, über sich selbst und das eigene Leben schreiben – das ist seit einiger Zeit angesagt. Erstmal zu den Begriffen: Was unterscheidet denn autofiktionale von autobiographischen Texten?
Eine Autobiografie ist die Beschreibung der eigenen Lebensgeschichte. Der autobiografische Roman oder die autobiografische Erzählung müssen weniger objektiv und sachlich richtig sein als die Autobiografie. Autofiktionale Texte kombinieren ein fiktives Geschehen mit autobiografischen Elementen. Dabei sind unterschiedliche Lesarten möglich und sogar gewollt, je nachdem, ob sich Leser und Leserin mehr auf den autobiografischen Pakt oder auf den fiktionalen Pakt einlassen. Autor und Figur sind im Fall der Autofiktion trotz eventueller Namensgleichheit nicht identisch.

Was reizt Leserinnen und Leser an dieser Form von Literatur? Sind wir neugierig und ein bisschen voyeuristisch?
Ich denke, dass die Antwort mit unserer aktuellen Gesellschaft und auch mit den neuen Medien zu tun hat. Uns allen schwirrt der Kopf von so vielen News und Fake-News, sich widersprechenden Geschichten. In einer Welt wie der unseren gehört die Literatur zu den „alten“ Medien. Hier zählt das geschriebene Wort noch etwas. Es ist, als würden Schriftstellerinnen und Schriftsteller als die besseren Journalist*innen wahrgenommen – ihre Namen stehen für eine größere Verbindlichkeit und längere Haltbarkeit als die im Minutentakt aktualisierten Schlagzeilen auf Spiegel online.

Wo liegen die besonderen Möglichkeiten, wenn man das eigene Leben literarisch verarbeitet?
Wir schreiben dadurch lebendiger, detailreicher, wir geraten weniger leicht an Klischees und Schablonen. Und wir kennen uns sehr gut aus in der Welt, über die wir schreiben.

Was sollten Autorinnen und Autoren dabei tunlichst vermeiden?
Das Argument: So ist es aber gewesen. Wir müssen mit Wahrscheinlichkeit und psychologischer Schlüssigkeit arbeiten. Es zählt nicht, was tatsächlich geschehen ist, sondern was plausibel gemacht werden kann – nur dann findet Identifikation statt beim Lesen.

 Ist es als Autorin oder Autor von literarischen Texten überhaupt möglich, die eigene Person beim Schreiben völlig auszuklammern?
Nein. Auch eine gute Fiktion wird immer mit mir zu tun haben: Warum würde ich sie sonst entwickeln, wie könnte sie mich sonst genügend fesseln, um mehrere Schreibjahre mit ihr und den in ihr steckenden Figuren verbringen zu wollen? Selbstverständlich ist man beim Schreiben immer dem Eigenen auf der Spur. Schreiben ist der Versuch, sich die Fragen zu beantworten, die einen umtreiben.

Welche Rolle spielt das Schreiben über sich selbst in Ihren Texten?
Ich denke dabei an einen Satz von Max Frisch: „Schreiben heißt: sich selber lesen.“ Und würde ergänzen: „… und von sich erzählen.“ Meine Texte sagen viel darüber aus, wie ich die Welt sehe. Das eigentlich Einzigartige an uns sind nämlich gar nicht die Dinge, die wir erleben – sondern die Gedanken, die wir denken. Dieser Kern, die Aussage des Textes, sollte authentisch sein. Eine Erzählung kann prima ohne reale Aspekte meines Lebens auskommen, aber niemals ohne eigenständige Gedanken. Natürlich kann ich auch eine Figur erfinden, die völlig anders denkt als ich. Aber das tue ich dann nicht ohne Grund – ich tue es, um etwas zu zeigen, über das ich mir zuvor Gedanken gemacht habe.

Kann man auch beim fiktionalen Schreiben Autobiographisches bewusst nutzen?
Unbedingt! Füllen Sie die fremden Figuren, die Sie beschreiben, immer wieder mit eigenem Leben. Das können Details sein, die Sie im Alltag beobachtet und im Notizbuch aufgehoben haben. Das können Sätze aus realen Gesprächen sein, aber auch Gerüche oder Geräusche, die Ihnen einmal aufgefallen sind.
Zweitens: Betreiben Sie „lebendige Recherche“. Suchen Sie nach Ihren verborgenen Seiten und Abgründen. Ein Prozent Mörder steckt wahrscheinlich in jeder und jedem von uns. Ein Prozent Genie, ein Prozent Wahnsinn. Wenn Sie diese einzelnen, kleinen Charakterzüge erst einmal entdeckt haben, können Sie sie gedanklich auf die Spitze treiben.
Und drittens: Sobald Sie wissen, auf welches Thema Sie in Ihrer fiktionalen Geschichte hinschreiben, sollten Sie die Augen schließen und schauen, was für eigene Erinnerungen zu diesem Thema in Ihnen auftauchen. Wenn Sie von diesem Material etwas in Ihre fiktive Geschichte einfließen lassen, wirkt der Text sofort authentischer, weniger konstruiert. Und Sie kommen Ihren Figuren näher.

Franziska Gerstenberg, 1979 in Dresden geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie erhielt zahlreiche Stipendien und Literaturpreise, zuletzt ein Aufenthaltsstipendium in der Villa Massimo in Rom. Sie lebt mit ihrer Familie in Leipzig. Ihr erster Roman „Spiel mit ihr“ wurde mit einem Stipendium der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart sowie dem Förderpreis zum Lessingpreis ausgezeichnet. Für ihre Erzählungen „So lange her, schon gar nicht mehr wahr“ wurde sie mit dem Sächsischen Literaturpreis 2016 ausgezeichnet.