„Wir schöpfen alle aus dem Vollen.“

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Der Autor Nils Mohl über Helden, Sternstunden und gelungenes Erzählen.

Nils Mohl, wenn Sie mit einem neuen Text beginnen, wie fangen Sie an?
Los geht‘s ja im Chaos der eigenen Vorstellung. Es ist fast so, als wären alle Geschichten im Kopf schon immer da. Leider nur bruchstückhaft. Also fängt man an, sie zusammenzusetzen, das beginnt bei mir oft mit einer Figur, einer Stimmung, einem Schauplatz, einem Dialogfetzen. Einer Kleinigkeit, die sich verfestigt und die ich dann ausspinne. Das ist der schönste Teil der Arbeit. Mit Abstand. Das Planen und Ordnen kommt hinterher, ganz unterschiedlich akribisch. Aber niemand schreibt einfach drauflos. Wir schöpfen alle aus dem Vollen.
 
Trotzdem gibt es sehr unterschiedliche Herangehensweisen beim Schreiben. Manche planen den Plot genau, andere lassen sich eher treiben. Kann man da überhaupt allgemeingültige Tipps geben? 
Es ist vielleicht ein bisschen wie beim Reisen. Wenn jemand von Hamburg nach Kalkutta möchte, der weiteste Ausflug bisher allerdings nur bis zum Hauptbahnhof ging, ist es mit ein paar Tipps natürlich nicht getan. Trotzdem kann es auch in so einem Fall nur helfen, sich ein wenig auf das Abenteuer vorzubereiten. Und der Hinweis, dass es auf dem Fahrrad wohl länger dauern wird als mit dem Flieger, hat natürlich eine gewisse Gültigkeit. Aber klar, Reisen muss jeder für sich.
 
Sie arbeiten mit dem Prinzip des Story-Kreisels. Wie sind Sie darauf gekommen?
Besonders beim Unterrichten ist mir aufgefallen, dass eine einfache Erkenntnis enorm nützt, um die wichtigen dramaturgischen Entscheidungen beim Erzählen leichter zu treffen: Alle Helden, Anti-Helden und Superhelden, die wir schätzen, lenken zum Finale ihr Schicksal in die gewünschte Bahn, indem sie über sich hinauswachsen. Sie handeln. Die Titanic geht unter, und Jack opfert sein Leben für Rose. Der schüchterne Langweiler Maik Klingenberg setzt sich vor Gericht tapfer für seinen Freund Tschick ein. Rocky gelingt das Kunststück, über 15 Runden gegen den amtierenden Boxweltmeister im Ring zu bestehen. Gegen Ende jeder gelungenen Geschichte geschieht immer das Gleiche: Wir werden Zeuge einer Sternstunde.
 
Sie gehen dabei von bestimmten dramaturgischen Prinzipien aus. Wie helfen die beim Schreiben? 
Wenn ich weiß, dass ich auf der Erde dem guten alten Prinzip der Gravitation vertrauen kann, muss ich mich nicht mehr so ängstigen, beim Herumhüpfen plötzlich im All zu landen. Und wenn ich die Dramaturgie einer Geschichte einigermaßen im Griff habe, kann ich all den anderen Aspekten dann natürlich mehr Aufmerksamkeit widmen. Das Schöne an Prinzipien ist ja, sie gelten immer. Trotzdem fällt es nicht nur Anfängern oft schwer, den eigenen Stoff gut zu sortieren und zu ordnen. Wahrscheinlich scheint diese Aufgabe so vertrackt, weil sich Geschichten immer erst vom Ende her richtig erzählen lassen. Und wer kennt das Ende schon am Anfang?
 
Kann mich das Wissen um diese Prinzipien beim Schreiben auch einschränken oder hemmen?
Je mehr man weiß, desto mehr hat man zu beachten. Aber die gute Nachricht ist vielleicht: Sobald ich mein Handwerk ein wenig beherrsche, bin ich auch nicht mehr so verloren, wenn ich festzustecken glaube. Hänger und Schwächen lassen sich schneller identifizieren und beheben, wenn man das richtige Werkzeug hat. Schreiben ist unterm Strich ja vor allem sehr intensives Lesen.
  
Sie schreiben auch Gedichte. Funktioniert der Story-Kreisel auch für Lyrik? 
In kleinerem Maßstab auf jeden Fall. Auch Gedichte folgen dramaturgischen Prinzipien. Sitzt nicht jeder Vers an der bestmöglichen Stelle, ist ein Gedicht schnell wie ein Witz mit versauter Pointe. Oder der Aufbau eines Gedichtbandes: Kein Dichter wählt eine völlig willkürliche Reihenfolge. Die dramaturgischen Herausforderungen sind beim Erzählen dennoch ungleich höher. Allein wegen der Stofffülle. Umgekehrt können Erzähler von Lyrikern prima lernen, dass selbst die besten Stoffe sich erst im Zusammenspiel von Inhalt, Form und Sprache voll entfalten. Aber: andere Geschichte …

Auf der Autorentagung narrativa am 4./5. Juni gibt Nils Mohl den Workshop „Stoffentwicklung mit dem Story-Kreisel“.

Nils Mohl, geboren 1971, lebt mit seiner Frau und seinen drei Kindern in Hamburg. Für den Roman „Es war einmal Indianerland“ wurde er unter anderem mit dem Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis und mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet. Zudem wurde das Buch fürs Kino verfilmt, das Drehbuch dazu hat Nils Mohl selbst verfasst. Seine Bücher erscheinen im Rowohlt Verlag und bei Mixtvision.