Die Schriftstellerin Ulla Lenze über ihre Arbeit am zeitgeschichtlichen Roman, 180 Seiten Luftpostbriefe, eine Zeitreise mit ihrer Mutter und eine tatsächliche Reise in die USA.
Ulla Lenze, bei der Autorentagung narrativa im Juni sprechen Sie über das Schreiben zeitgeschichtlicher Romane. Was ist für Sie das Besondere daran?
Bis ich selber einen zeitgeschichtlichen Roman geschrieben habe, wurde dieses Genre von mir ziemlich ignoriert. Denn warum sollte ich mich mit einer herbeiphantasierten Version von Vergangenheit beschäftigen? Da gehe ich doch lieber ins Museum oder lese die Bücher aus der Zeit selber. – Dahinter steckte ein nicht ganz zu Ende gedachtes Ideal von Authentizität, das davon ausgeht, nur was man selbst gesehen und erlebt hat, lässt sich erzählen.
Wie finden wir für das Historische, das wir ja nicht selbst miterlebt haben, eine angemessene Form?
Selbst bei „eigenen“ Stoffen filtern wir, selektieren, setzen neu zusammen, überformen; ja wir eignen uns einen Stoff eben künstlerisch an. Und da Vergangenheit fast immer in die Gegenwart hineinwirkt, ist eine künstlerische Aktualisierung durch spätere Generationen nicht nur legitim, sondern auch hochinteressant. Das musste ich aber erst verstehen, um meine Hemmungen und Vorbehalten ablegen zu können.
Und natürlich gehen mit politischen Stoffen, etwa der NS-Zeit, ganz besondere Herausforderungen einher – ästhetische und dramaturgische Aspekte dürfen in dem Sinne nicht ins Kraut schießen, dass sich unversehens Geschichtsrevisionismen einstellen. Da hat man ganz klar eine Verantwortung.
Zu zeitgeschichtlichen Themen gibt es oft einen familiären Bezug. Eltern oder Großeltern erzählen, manchmal sind auch Briefe oder Tagebuchaufzeichnungen vorhanden. Erleichtern diese persönlichen Quellen den Zugang – oder machen sie das Schreiben vielleicht sogar schwieriger?
Das hängt sicher davon ab, wie belastend oder auch tabuisiert eine Familiengeschichte ist. Die persönlichen Quellen haben auf jeden Fall den Vorteil, dass sie meist exklusiv sind, schon das kann sehr motivieren. Sofern man noch mit Zeitzeugen sprechen kann, ist auch das beflügelnd. Als ich meinen Roman „Der Empfänger“ schrieb, hat meine Mutter, Jahrgang 1938, mir sehr viel über den Alltag in der Nachkriegszeit erzählen können, mit erstaunlich konkreten Details. Ich fühlte mich, als wäre ich mit ihr in eine Zeitmaschine gestiegen. Das hat mir den Zugang sehr erleichtert. Aber auch das damit verbundene Signal, dass es in Ordnung ist, über die Familie zu schreiben, war wichtig.
In Ihrem Roman geht es um ein noch weitgehend unbekanntes Kapitel des Nationalsozialismus. Wie sind Sie bei der Recherche vorgegangen?
Ausgelöst wurde meine Neugier auf diesen Stoff zunächst durch den Briefwechsel zwischen Josef Klein, dem Protagonisten, und seinem Bruder – meinem Großvater – Carl Klein. Es sind knapp 180 Briefe, auf dünnem Luftpostpapier, die zwischen den USA, Neuss am Rhein und später Südamerika gewechselt wurden. Irgendwann habe ich „Josef Klein“ in die Suchmaschine eingegeben und stieß auf einen Wikipedia-Eintrag über den Duquesne-Spionagering. Von dort war es dann nicht mehr weit zu den etlichen Publikationen, die aber alle in den USA erschienen sind. Außerdem war das Archiv der New York Times immens hilfreich, in New York angesiedelte Spielfilme aus den 30ern und 40ern, und letztlich eine Reise nach New York, wo ich tatsächlich noch einiges über meinen Protagonisten herausfinden konnte.
Wie sehr bin ich als Autorin eines zeitgeschichtlichen Romans den Fakten beziehungsweise dem Stand der Forschung verpflichtet?
Das kommt sicherlich auf den Stoff an und auf den eigenen Anspruch. Für mich persönlich stand im Vordergrund, einem ambivalenten und eher schwachen Charakter wie Josef Klein, einem Mitläufer, erzählerisch gerecht zu werden, aber auch Geschichtswissen zu vermitteln. Keine ganz leichte Kombination. Da ich Neuland betreten hatte, indem ich über den Nazi-Geheimdienst in den USA schrieb, war es mir wichtig, mein Verständnis der damaligen Vorgänge überprüfen zu lassen. Das geschah in Gesprächen mit Geheimdienstexperten und Historikern. Ich habe nicht nur den Fall Josef Klein so gut es ging rekonstruiert, sondern viele ähnliche Fälle studiert, und wo immer es Lücken gab oder ich aus dramaturgischen Gründen abweichen musste, geschah das in Übereinstimmung mit einem anderen historischen Fall.
Gibt es bestimmte Mittel der Fiktionalisierung, die sich für einen zeitgeschichtlichen Roman besonders gut eignen?
Mir ist bislang leider kein Zaubermittel begegnet. Wie bei jedem Schreibprojekt braucht man: Zeit, Geduld, Vertrauen, gute Freunde. Man muss ausprobieren, überarbeiten, nachdenken, Pause machen, wieder anfangen.
Haben Sie einen Tipp für Debütautorinnen und -autoren, die sich einen historischen Stoff vorgenommen haben?
Man sollte sich früh fragen: Was an diesem Stoff ist heute wichtig? Und warum interessiert er mich? Dadurch lässt sich vorab vieles entscheiden zu Erzählstrategie, Perspektive und Tonlage. Und dann loslegen!
Ulla Lenze, geboren 1973, studierte Philosophie und Schulmusik in Köln und lebt heute in Berlin. Sie war Writer-in-Residence in Damaskus, Mumbai, Istanbul und Venedig, ihre Lesereisen führten sie unter anderem nach Nordafrika, Indonesien und Australien. 2020 erschien ihr Roman „Der Empfänger“, der auf der Spiegel-Bestsellerliste landete und in über zehn Sprachen übersetzt wurde. Ulla Lenze wurde vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Literaturpreis des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft 2016 und dem Niederrheinischen Literaturpreis 2020 für ihr Gesamtwerk.