„Wir schauen auf die Stärken des Textes – und verzichten auf Kritik.“

Die Schreibtrainerin Christine Kämmer unterrichtet Gateless Writing. Was das mit kreativem Schreiben zu tun hat, wieso der erste Entwurf ein Rohdiamant ist und warum uns ein wenig amerikanischer Überschwang guttut, das erzählt sie im Interview.

Christine Kämmer, Sie haben sich als Schreibtrainerin auf Gateless Writing spezialisiert. Die Methode kommt aus den USA und ist bei uns eher unbekannt. Wie sind Sie darauf gekommen? 
Durch eine eigene Flaute beim Schreiben. Da habe ich mich auf die Suche nach Methoden gemacht, die mir neuen Schwung geben könnten und bin auf Gatless Writing gestoßen. In einem ersten Online-Workshop hat mich der Ansatz gleich angesprochen. Diese Art, ans Schreiben heranzugehen, ist schon sehr amerikanisch, etwas überschwänglich. Aber genau das tut ja auch gut. Ich war beeindruckt von der Atmosphäre im Kurs und wie toll ich selbst wieder ins Schreiben gekommen bin. Weil ich das auch anderen Schreibenden vermitteln wollte, habe ich eine Online-Weiterbildung bei Suzanne Kingsbury absolviert, der Begründerin des Gateless Writing.

Was passiert beim Gateless Writing?  
So ein Workshop beginnt mit einer kurzen Entspannung, zum Beispiel einer Körperübung. Anschließend gibt die Trainerin einen Schreibimpuls und alle haben zehn bis 15 Minuten Zeit, draufloszuschreiben. Dann tauscht sich die Gruppe in einer Feedback-Runde aus, für die spezielle Regeln gelten.

Welche Regeln sind das?
Es geht darum, dass wir den kritischen Blick hinter uns lassen und stattdessen auf die Stärken der Texte schauen – bei den Texten anderer und bei unseren eigenen. „What did we love?“ ist die Leitfrage in der Feedback-Runde. Kritik lassen wir außen vor. Wer sich nicht vor Kritik fürchten muss, kann seine eigenen kreativen Quellen ganz anders anzapfen und vielleicht auch die eigene authentische Schreibstimme finden. 

Aber konstruktive Kritik kann doch auch hilfreich sein, oder? Wenn man gar keine kritische Rückmeldung bekommt, erkennt man Schwächen im Text womöglich nicht und schleppt sie immer weiter mit sich herum.
Bei Kritik kommt es vor allem auf den Zeitpunkt an. In den Workshops geht es um Texte, die gerade erst entstanden sind, innerhalb einer sehr kurzen Schreibzeit. Sich den Stärken des Textes bewusst zu werden und diese weiter herauszuarbeiten, ist also der erste Schritt. Sich in diesem Stadium auf die Schwächen eines Textes zu fokussieren, würde unsere Kreativität nur ausbremsen. 

Den inneren Kritiker zurückstellen und erstmal unzensiert drauflos schreiben: Damit arbeiten viele Methoden des kreativen Schreibens. Was unterscheidet Gateless Writing von anderen Ansätzen?
Die Herangehensweise ist tatsächlich ähnlich. Ein Unterschied ist aber der charakteristische Ablauf beim Gateless Writing – vom Entspannungsimpuls zu Beginn über den Schreibimpuls bis zu der expliziten Übereinkunft nicht zu kritisieren, die wir durch die Spielregeln klarmachen. Und zweitens: Viele andere Kreativmethoden arbeiten mit der Idee des „shitty first draft“: Ich darf den größten Mist schreiben, mich freischreiben. Beim Gateless Writing gehen wir davon aus, dass der erste Entwurf gar kein Mist ist, im Gegenteil: Wir betrachten ihn als eine Art Rohdiamant. Zu Beginn entsteht vielleicht der authentischste Text, den ich im ganzen Prozess schreiben werde. Meine Stärken und meine Originalität stecken schon in diesem Entwurf, ich muss sie nur herauskitzeln. Natürlich ist der Text in dieser Form noch nicht reif zur Veröffentlichung. Aber er trägt sehr viel Potenzial in sich. 

Wie arbeite ich dieses Potenzial heraus?
Indem ich selbst auf das schaue, was mir intuitiv im ersten Moment gelingt. Das ist bei jedem etwas anderes: Einer hat diesen besonderen Humor, der nächste schreibt in kurzen, knackigen Sätzen, der dritte hat ein besonderes Gespür für Figuren. Wenn mir das in der Feedback-Runde zurückgespiegelt wird, lerne ich auf meine besonderen Stärken zu vertrauen und sie aus meinen Texten herauszuarbeiten. Ich beobachte oft, dass Schreibende, die über einen längeren Zeitraum mit Gateless Writing arbeiten, experimentierfreudiger werden, ihr Profil schärfen und mehr Selbstvertrauen gewinnen. 

Wie kann ich die Idee des Gateless Writing allein zu Hause umsetzen?
Es ist immer hilfreich, sich vor dem Schreiben zu entspannen, zum Beispiel mit Musik oder einer kurzen Körperübung. Und ich kann auch zu Hause am Schreibtisch bewusst auf die Stärken von eigenen und fremden Texten schauen, indem ich mich zum Beispiel frage, was an dem Text schon gut funktioniert und warum.

Gateless Writing bei der Textmanufaktur: Vom 2. bis 6. Juni gibt Christine Kämmer ein Schreibretreat in Kärnten. Hier geht es zur Anmeldung.

Christine Kämmer, Jahrgang 1974, promovierte in Sinologie und hat viele Jahre im Journalismus und in der Wirtschaft gearbeitet. Heute ist sie ausgebildete Trainerin für kreatives und berufliches Schreiben und arbeitet selbstständig als Dozentin und Schreibcoach. Seit 2020 gehört sie zu den wenigen deutschsprachigen Trainerinnen, die für die amerikanische Gateless Writing-Methode zertifiziert sind.