„Intensiv am Text zu arbeiten, finde ich extrem wichtig.“

Lektoren lektorieren – oder? Nicht immer, sagt der Hanser-Lektor Florian Kessler. Im Interview erklärt er, was das Wichtigste an seiner Arbeit ist und womit er die meiste Zeit verbringt. Außerdem gibt es ein paar Tipps, wie Debütautoren auf sich aufmerksam machen können.  

Florian Kessler, Sie arbeiten als Lektor im Carl Hanser Verlag. Wie sieht ein typischer Arbeitstag bei Ihnen aus?
Mein Tag ist vor allem durch E-Mails strukturiert. Ich kommuniziere in alle Richtungen: Im Lektorat tausche ich mich über Manuskriptideen aus oder schicke Coverentwürfe an die Autoren und gebe die Antwort an die Herstellungsabteilung weiter. So gesehen bin ich eine Scharnierstelle zwischen Autorinnen und verschiedenen Verlagsabteilungen.

Die Kommunikation nimmt also einen Großteil Ihrer Zeit in Anspruch. Ist sie auch das Wichtigste?
Die wichtigste Aufgabe ist für mich zugleich der große Luxus dieses Berufs: Manuskripte lesen, sie einschätzen und daran arbeiten. Das sollten Lektorinnen und Lektoren vor allem können. Allerdings ist das konzentrierte Arbeiten am Text ein bedrohtes Gebiet, das immer wieder gegen das Tagesgeschäft verteidigt werden muss. Ich betreue meistens zwei, drei Bücher pro Halbjahresprogramm, bei vielen Kolleginnen ist es sicherlich mehr. Diese Zeit, um die ich immer wieder kämpfe, ermöglicht es mir, intensiv am Text zu arbeiten, ihn nochmal zu lesen, nochmal mit der Autorin zu telefonieren, nochmal etwas zu verändern. Das finde ich extrem wichtig.

Warum stehen die Lektorate so stark unter Druck?  
Nun ja, man kann Bücher sehr lieben und trotzdem sagen, dass es eine stagnierende Branche ist. Jeder Verlag will natürlich ein Stück vom Bärenfell abbekommen, darum werden viele Bücher unter großem Druck veröffentlicht. Auch wenn Verlage seit ein paar Jahren verstärkt versuchen, die Veröffentlichungen pro Saison etwas zurückzufahren, wird immer noch sehr viel gemacht. Die Zahl der Beschäftigten im Verlag wächst dagegen eher nicht, schrumpft mitunter sogar. Lektorinnen und Lektoren werden dann oft zu Produktmanagern, die vor allem koordinieren und kommunizieren. Natürlich ist auch das wichtig. Aber ein gutes Buch zu machen bedeutet für mich, dass irgendwo Leute sitzen, die intensive Ping-Pong-Partner der Autorinnen sind. Die Lektorate sollten immer wieder entschieden dafür eintreten.

Wie wirkt sich die zunehmende Digitalisierung aufs Lektorat aus?  
Die Arbeit an den Manuskripten läuft bei uns inzwischen komplett digital ab. Als ich vor acht Jahren bei Hanser anfing, habe ich viele Autorinnen und Autoren noch auf Papier lektoriert, an den Rändern meine Bemerkungen eingetragen. Inzwischen arbeiten wir die Korrekturen nur noch digital in die Dokumente ein, die schließlich an die Herstellung weitergegeben werden. Das beschleunigt die Sache erheblich und ist aus meiner Sicht ein Fortschritt. Interessant finde ich, wie sich damit auch meine Arbeit verändert: Ich nutze die Suchfunktion sehr häufig und habe so das ganze Manuskript viel kleinteiliger im Blick. Mir fällt dann zum Beispiel auf, dass der Name der wichtigen Nebenfigur sich auf Seite 130 plötzlich ändert, was wir alle bis kurz vor Drucklegung nicht bemerkt haben.
Digitalisierung bedeutet für das Lektorat aber auch, beispielsweise Schlagworte und Informationen zu jedem Titel in Datenbanken einzugeben. Das ist wichtig, damit die Bücher auf der Website und für den Handel gut auffindbar sind. Trotzdem habe ich das Gefühl, auch hier wieder meine Zeit für die Arbeit am Text verteidigen zu müssen.  

Stichwort Textarbeit: Ab wann bekommt denn eine dritte Person im Verlag das Manuskript zu sehen?
Der Zeitpunkt, zu dem ein Manuskript im Verlag verarbeitet werden muss, verschiebt sich immer weiter nach vorn. Leseexemplare für die Presse und für Handelspartner müssen oft sehr früh hergestellt werden, ebenso wie Satzvorlagen für E-Books und ähnliches. Das Manuskript gebe ich aber schon lange vorher das erste Mal aus der Hand. Oft zeige ich es sehr früh ein paar Leuten im Lektorat, um zu entscheiden, ob wir einen Vertrag mit dem Autor oder der Autorin machen. Und natürlich ist es wichtig, den Vertrieb mit ins Boot zu holen und von dem Manuskript zu überzeugen. Auf der anderen Seite brauche ich auch kritisches Feedback von der Zielgruppe und überhaupt. Weil beispielsweise viele Bücher vor allem von Frauen gelesen werden, zeige ich die Manuskripte jüngeren und älteren Frauen, zum Beispiel aus der Familie. Wenn ein Text nur vom Lektor und der Autorin gelesen wird, dann stimmt etwas nicht.

Wie werden Sie auf neue Autorinnen und Autoren aufmerksam?
Ein Verlag wie Hanser erhält viele unverlangt eingesandte Manuskripte, die auch angeschaut werden. Aber ich kann mich nicht erinnern, dass daraus schon einmal ein erfolgreiches Buch entstanden wäre. Im Literaturbetrieb gibt es zahlreiche Institutionen und Angebote, die eine Art Filterfunktion erfüllen: Preise und Stipendien, Veröffentlichungen in Zeitschriften oder ein interessanter Post auf Instagram. Ich bin auch schon oft über gemeinsame Bekannte mit jemandem in Kontakt gekommen. Der andere Weg ist natürlich über eine Agentur, die diese Filterfunktion noch einmal intensiver erfüllt. Auch wenn ich viel mit Agenturen zusammenarbeite, macht es mir immer wieder Spaß, selbst den Kontakt herzustellen.

Was empfehlen Sie Debütantinnen und Debütanten, die noch keine Kontakte in die Verlagsbranche haben?
Zum einen: Sich ein bisschen tummeln, etwa auch in Institutionen wie der Textmanufaktur, sich für Förderstipendien bewerben, an Wettbewerben teilnehmen oder in Zeitschriften veröffentlichen. Das sind erste Schritte, an die man anknüpfen kann.  
Und das andere: Wirklich toll schreiben. Für mich hat Gegenwartsliteratur selbstredend auch mit aktuellen Diskussionen zu tun, und fußt gleichzeitig auf der Beschäftigung mit anderer Literatur unserer Zeit. Bei vielen Autorinnen und Autoren merke ich einfach, dass sie Gegenwartsliteratur lesen und dass das eigene Schreiben nicht ganz vom Rand kommt, sondern sich einfügt in diesen großen Chor der Stimmen.

Florian Kessler wurde 1981 in Heidelberg geboren. Er studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim und arbeitet als Lektor für Belletristik und Sachbuch im Carl Hanser Verlag in München.