„Menschen sprechen nicht gerade.“

(c)Susanne Schleyer

Ein Interview über Figuren? Der Autor Domenico Müllensiefen ist sofort einverstanden. Weil sich die Urlaubstermine überschneiden, führen wir das Interview per E-Mail. Das könnte steif wirken, ist diesmal aber ein Glücksfall. Denn statt zu erklären, zeigt Domenico Müllensiefen schnell mal, wie seine Figuren entstehen.

Domenico Müllensiefen, Ihr Romandebüt „Aus unseren Feuern“ wurde besonders wegen der authentisch wirkenden Figuren gelobt. Wie entstehen Ihre Figuren? 
Wenn ich einen neuen Text beginne, nehme ich alltägliche Situationen: Autofahren, Einkaufen, auf einen Bus warten. Taucht in so eine vertraute Situation ein untypischer Moment ein, dann zeigen die Figuren ihre ersten Eigenheiten. Ein Beispiel: Zwei Personen warten auf den Bus. Der Bus hat Verspätung, es ist unklar, ob er überhaupt noch auftaucht. Die Person, die unter Zeitdruck steht, überlegt: Lohnt es sich zu warten oder nicht? Vielleicht will sie die Zeit mit einer Zigarette überbrücken. Sie hat aber kein Feuer. Figur zwei – und bis hier ist für mich vollkommen unklar, ob die beiden sich überhaupt kennen – hat Feuer, will aber nicht, dass Person eins raucht. Nun haben wir zwei starke Motive, die es zu hinterfragen gilt: Warum hat die erste Figur es so eilig und warum ist es der zweiten wichtig, dass die erste nicht raucht? Also lassen wir sie mal reden. Ich werde die folgenden Dialogzeilen schreiben, ohne mir bis hierhin weitere Gedanken zu den Figuren gemacht haben.
Figur 1: „Das ist doch alles Scheiße. Ich schaffe es schon wieder nicht pünktlich.“
Figur 2: „Fahren Sie öfter mit diesem Bus?“
Figur 1: „Wenn er denn mal fährt! Feuer?“
Figur 2: „Sie wollen doch jetzt nicht etwa rauchen?“
In diesen vier Zeilen lernen wir schon sehr viel über die beiden: Figur zwei siezt und ist an Figur eins interessiert. Die interessiert sich dagegen nur dafür, wegzukommen. Führt man die Bushaltestellenanekdote noch ein paar Seiten weiter, erfahren wir immer mehr. Und dann, wenn wir genug wissen, wenn uns klar ist, wie alt die Figuren sind, welches Geschlecht sie haben, ob sie eher arm oder reich sind und so weiter, kann man die prägnantesten Informationen aufschreiben. Schon entsteht ein Lebenslauf.

Entwerfen Sie bei einem Roman zuerst den Plot oder sind die Figuren vorher schon da?
Der Plot ergibt sich aus den Figuren. Es kommt während der Arbeit immer wieder vor, dass Figuren mit gewissen Eigenschaften benötigt werden. Man kann versuchen, diese Eigenschaften einer vorhandenen Figur überzustülpen oder eine neue Figur einführen. Dann ist es ganz gut, wenn man keine Angst hat, auch mal zehn oder mehr Seiten zu löschen.

Manchmal wirken Figuren hölzern. Woran kann das liegen?
Vermutlich daran, dass ich nicht genug über meine Figuren weiß. Wenn ich ihre Motive nicht kenne, können sie keine Entscheidungen treffen, ich kann sie nicht mit Dingen konfrontieren, mit denen sie nichts zu tun haben wollen. In meinem Roman gibt es zum Beispiel eine Szene, in der sich die Hauptfiguren gemeinsam mit den Eltern beim Schuldirektor treffen müssen. Nebenbei stellt sich heraus, dass zwei der Väter früher mal befreundet waren. Das sind nur zwei, drei Sätze, in denen das angedeutet wird. Dazu habe ich fünf Seiten Biografien mit Ereignissen, die nie im Buch auftauchen oder erwähnt werden. So eine Arbeitsweise benötigt viel Zeit. Aber wenn ich meine Figuren so gut kenne, werden sie höchstwahrscheinlich nicht hölzern wirken.

Was sind die häufigsten Anfänger-Fehler und wie vermeidet man sie?
Ich kann nur für mich sprechen. Mir fiel es sehr schwer, meine Figuren überhaupt zu verstehen. Ich wollte immer auf Witz-komm-raus schreiben. Bis zu meinem Studium am Deutschen Literaturinstitut hatte ich nie einen meiner Texte ernsthaft überarbeitet. Zu verstehen, dass alles, also wirklich alles, diskutabel ist, war schwer. Aber als ich das dann hatte, gings richtig ab.

Der spießige Kleingärtner, die Latte Macchiato-Mutter – wie vermeide ich bei Figuren Klischees?
Indem die Klischees gebrochen werden. Der Mann im Kleingarten darf spießig sein. Aber vielleicht ist er früher zur See gefahren? Oder wäre es gerne. Die Frage ist nicht, ob er spießig ist, sondern was ihn spießig gemacht hat. Wenn wir das wissen, haben wir eine Figur, die interessant ist.
Ebenso die Mutter mit dem Milchkaffee, der nicht so genannt wird. Ein exotisches Getränk, früher praktisch nicht zu bekommen. Jetzt der Versuch, so zu sein, wie man immer werden wollte. Eine Figur, die sich in einem unbekannten Milieu bewegt. Hervorragend! Und gar nicht mehr so klischeebehaftet.

Wie finde ich eine authentische Sprache für die einzelnen Figuren?
Hören Sie den Menschen zu! Menschen sprechen nicht gerade. Sie biegen im Satz drei Mal ab, geben Antworten auf Fragen, die vor Minuten schon gestellt wurden. Sagen Dinge, die überhaupt nicht zur Situation passen. Oder sie sind hochkonzentriert, wollen nichts Falsches sagen, machen es dann aber doch. Oder sie wollen sich mal richtig ausbrüllen und verkommen dann ins Faseln. Einfach zuhören und aufschreiben. Dann schmeißen wir alles raus, was uns nicht weiterführt, und schon haben wir es.

Können Figuren auch ohne Dialoge überzeugend sein?
Er nickte, klopfte einmal hart auf den Tisch und stand auf. An der Tür drehte er sich kurz um, es sah aus, als wolle er noch was sagen. Dann drehte er sich um und verließ den Raum.

„Bewegung in den Text bringen – Figuren zum Leben erwecken“ heißt Domenico Müllensiefens Seminar bei der Textmanufaktur, am 11. und 12. November in Leipzig. Hier geht es zur Anmeldung.

Domenico Müllensiefen arbeitet als Planer und Bauleiter für Glasfaser- und Telekommunikationsnetze. 2022 erschien sein Romandebüt „Aus unseren Feuern“ im Berliner Kanon Verlag, an dem vor allem die authentische Darstellung der Figuren gelobt wurde, Figuren voller Kraft und Leben (MDR). 2023 hat er den Klopstock-Förderpreis des Landes Sachsen-Anhalts gewonnen.