„Der erste Satz treibt einen in die Geschichte hinein.“

Peter-André Alt, Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und Präsident der Hochschulrektorenkonferenz, spricht über erste Sätze in der Weltliteratur und wie sie Schreibende inspirieren können.

Peter-André Alt, auf der Autorentagung narrativa werden Sie über „Erste Sätze in der Weltliteratur“ sprechen. Haben Sie einen ersten Lieblingssatz?
Mein Lieblingssatz ist zugleich der Titel meines Buches zu dem Thema: „Jemand musste Josef K. verleumdet haben,“ und dann geht es weiter: „denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“  Kafkas Roman „Der Prozess“ führt damit gleich in eine Rätselgeschichte ein. Das eigentliche Rätsel dieses Satzes ist der Konjunktiv: „getan hätte“. Der Konjunktiv, der hier gar nicht erforderlich wäre, sagt schon Wesentliches über den Roman, der dann folgt: Es ist ein Roman, in dem vieles nicht im wörtlichen Sinne verstanden werden darf. Wirklichkeit und Möglichkeit, Tatsachen und Traum gehen ineinander über. Das macht den Roman und auch seinen Anfang so faszinierend. Ich mag diesen ersten Satz so gern, weil er den Kern des Buches schon enthält.

Warum ist der erste Satz eines Romans oder einer Erzählung so wichtig? 
Jeder, der ein Buch aufschlägt, schaut auf den ersten Satz. Er soll hineinlocken in die Geschichte, soll ein Angebot machen, aber auch verführen. Nur wenn dieser Verführungsversuch funktioniert, liest man weiter. 

Spiegeln sich die literarischen Moden einer Zeit auch im ersten Satz?
Ja, so wie in Literatur insgesamt. Ein Blick in die Literaturgeschichte zeigt zum Beispiel: Textanfänge hatten nicht immer den Auftrag, Aufmerksamkeit zu erwecken. In der Antike beispielsweise war das Erzählen von Geschichten nicht so selbstverständlich wie heute. Im antiken Epos bittet derjenige, der eine Geschichte erzählt, zuerst die Götter um Beistand. Dieser sogenannte Musenanruf ist ein konstitutives Element in antiken Epen.
Später, im ausgehenden Mittelalter, hatte aus religiöser Sicht nur die Bibel Bestand. Das Erzählen von Geschichten wurde sehr kritisch gesehen. Wer sich dennoch dazu aufschwang, stand entweder im Verdacht, die Bibel nachahmen zu wollen oder schlicht Lügengeschichten zu erzählen. Und beides war gleichermaßen illegitim. Autoren des 16. und 17. Jahrhunderts versuchten daher schon im ersten Satz den Eindruck zu erwecken, das Erzählte hätte sich tatsächlich zugetragen. Beliebt war auch die Herausgeberfiktion: Der Erzähler hat angeblich ein altes Manuskript gefunden, das er jetzt wiedergibt. Er ist also gar nicht verantwortlich für die Geschichte. Das sind zwei Beispiele, die zeigen, dass erste Sätze vor Beginn der Neuzeit eine vollkommen andere Funktion hatten.

Seit wann zielen Textanfänge eher darauf ab, die Leser neugierig zu machen und in den Text hineinzuziehen? 
Seit der Neuzeit, und die beginnt hier mit dem 18. Jahrhundert. Seitdem gibt es verschiedene Formen, um Romane und Erzählungen einzuleiten: So etwa die Einführung einer  Person oder Hinweise auf die Zeit, in der eine Geschehen spielt. Es können Situationen beschrieben werden oder Stimmungen, es wird direkt Spannung erzeugt oder eine bestimmte Emotion beschworen. Das sind einige der verschiedenen Formtypen von ersten Sätzen.

Was können Autorinnen und Autoren heute von den ersten Sätzen der Weltliteratur lernen?
Es gibt viele Beispiele, die zeigen, was gut funktioniert. Es ist hilfreich, sich mit solchen ersten Sätzen zu beschäftigen, das Arsenal der Möglichkeiten kennenzulernen. Denn Autorinnen und Autoren heute bewegen sich ja in dieser Tradition. Vorhandenes kann parodiert, persifliert und weiterentwickelt werden.

Der erste Satz ist mit vielen Erwartungen verbunden. Wie können Schreibende damit umgehen?
Dass der erste Satz so viel leisten muss, haben viele Autorinnen und Autoren als große Belastung empfunden und daher Umgehungsstrategien entwickelt. Eine der charmantesten stammt von Jean Paul, einem der faszinierendsten Romanciers des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Er hat Romananfänge geschrieben und in Zettelkästen gesammelt. So hat er eine Art Ersatzteillager für Romane aufgebaut und, wenn er einen Roman schrieb, auf dieses Lager zurückgegriffen. Das ist eine Möglichkeit, den Druck aus dem Erzählprozess zu nehmen. Die zweite Variante, wahrscheinlich die verbreitetste: Ich schreibe den ersten Satz nicht zu Beginn, sondern später, wenn klarer ist, wie die Geschichte läuft. Aber es kann auch gute Gründe geben, mit dem ersten Satz anzufangen. Denn er treibt einen in die Geschichte hinein, zwingt zum Weitermachen. Wie immer in der Literatur gibt es viele Wege zum Erfolg. 

Die Autorentagung narrativa beginnt am Freitag, 17. März, mit Peter-André Alts Vortrag „Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten“. Für seinen Workshop am Freitagnachmittag „Erste Sätze – was sie aussagen und wie ich sie gestalte“ gibt es noch ein paar freie Plätze.

Peter-André Alt lehrt als Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin, die er von 2010 bis 2018 als Präsident leitete. Seit 2018 ist er Präsident der Hochschulrektorenkonferenz. Sein Buch „’Jemand musste Josef K. verleumdet haben …‘ Erste Sätze der Weltliteratur und was sie uns verraten“ ist im Verlag C. H. Beck erschienen.