André Hille, Gründer der Textmanufaktur, spricht über seinen neuen autofiktionalen Roman, über das Erinnern und Erfinden und die Suche nach der eigenen Stimme.
André Hille, mit der Textmanufaktur hast Du viele Autorinnen und Autoren auf ihrem Weg des Schreibens und Veröffentlichens begleitet. Im Februar erscheint dein zweites Buch „Jahreszeit der Steine“ bei C.H. Beck. Literaturvermittler und zugleich Schriftsteller sein – ist das ein Spagat?
Eigentlich nicht. Viele Autorinnen und Autoren sind ja in der einen oder anderen Form auch Literaturvermittler, schon allein um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Es schadet auch nicht, die andere Seite des Betriebs zu kennen, den Markt, man ist dann von vornherein realistischer. Aber das Schreiben ist in der Tat immer wieder eine vielschichtige Erfahrung. Jahrelang habe ich das Schreiben unterrichtet, also bestimmte Techniken des Schreibens analysiert. Man kann lernen, wie man Spannung erzeugt, einen lebensechten Dialog schreibt, Identifikation herstellt, Metaphern und Bilder verwendet, und doch muss etwas hinzukommen, etwas ganze Eigenes, die eigene Stimme. Und diese zu entdecken, kann kein Handwerk der Welt leisten. Dazu muss man in sich hineinhören, man muss auf sich vertrauen. Aber eben mit dem handwerklichen Wissen im Hintergrund.
Hast Du beim Schreiben Deines neuen Romans etwas ausprobiert, von dem Du bisher gesagt hättest: Das würde ich niemals machen?
Einer der Initiationsmomente war die Erinnerung an ein Gespräch mit dem Schriftsteller Andreas Maier, der sinngemäß zu mir sagte: Erfolg hatte ich erst, als ich aufhörte, mir Handlungen auszudenken. Ich habe beim Schreiben den Fokus verschoben, weg von der Dramaturgie hin zur Wahrnehmung. Das hätte ich mir früher nicht vorstellen können. Es ist nicht so, dass „Jahreszeit der Steine“ keine Handlung hat, aber ich bin von dieser Handlungsfixierung weggekommen. Ich habe zuerst auf meine Stimme gehört, und dann hat sich die Handlung ergeben.
Auf dem Buchcover steht „Roman“, die biographischen Parallelen zwischen Autor und Ich-Erzähler sind aber nicht zu übersehen. Ist „Jahreszeit der Steine“ eine Autofiktion, also die Verbindung von Autobiographischem und Erfundenem?
Ja, genau. Man erinnert sich und formt automatisch Geschichten aus dem Erinnerten. Die Erinnerung selbst hat keine Form, sie ist ein Gefühl. Man gibt dem Erinnerten erst durch die Sprache eine konkrete Gestalt, und in diesem Moment muss man sich festlegen. Man entscheidet sich für ein bestimmtes Wort und schon hat die Erinnerung eine Richtung, eine Schlagseite. Warum? Weil man sich selbst in einem besseren Licht dastehen lassen will, weil die Welt komplex ist, weil man unterhalten will, weil man Sinn erzeugen will. Schreiben ist immer intentional, insofern sehe ich kaum einen Unterschied zwischen Fiktion und Autobiografie. Auch das Fiktive kommt ja aus mir, und ich versuche, es möglichst wahr aussehen zu lassen, während ich das Wahre im Moment des Festhaltens fiktionalisiere.
Was ist reizvoll daran, dicht am eigenen Leben entlangzuschreiben?
Für mich persönlich war es das Finden der eigenen Stimme. Das Vertrauen in das Erzählen. Früher dachte ich immer, ich muss mir möglichst verrückte Dinge ausdenken, überraschende Wendungen, tolle Figuren, aber das stimmte für mich gar nicht. Ich habe innegehalten und die Stimme meiner Kindheit gehört, und auf sie habe ich vertraut. Ich habe nichts geplant oder konstruiert, ich habe mich jeden Tag an den Computer gesetzt und darauf vertraut, dass ich diese Stimme höre und etwas passiert.
„Jahreszeit der Steine“ umfasst nur einen einzigen Tag im Leben des Ich-Erzählers. Hast Du diese sehr kurze erzählte Zeit beim Schreiben als Wagnis empfunden?
Anfangs war es ein Wagnis. Ich habe mich gefragt, ob ich einen Tag, eine Stunde wirklich so hoch auflösen kann, ob es genug zu erzählen gibt. Aber je weiter ich kam, umso sicherer wurde ich. Ab einem gewissen Punkt, etwa der Hälfte, war ich glücklich über diesen offenen, aber tragfähigen Rahmen. Eine klare Struktur, die mir genug Raum für Wahrnehmungen, Figuren, kleine Geschichten gab, und trotzdem eine Richtung nach vorn, an der ich mich orientieren konnte.
Die Leser begleiten den Ich-Erzähler durch den Familienalltag, bei der Arbeit. Es ist ein gewöhnlicher Tag mit Erledigungen und Konflikten, Begegnungen, Gesprächen und Gedanken. Trotzdem steckt darin ein ganzes Leben. Zeigt sich das Große, Wichtige im Kleinen, Alltäglichen?
Unbedingt, das ist schon immer meine Überzeugung gewesen. Ich bin ein induktiver Erzähler, das heißt, ich schließe vom Einzelnen aufs Ganze. Eine kleine Szene im Garten, wie ich am Morgen das Unkraut herausreiße, führt zu großen Fragen über die Natur, Wachstum, die Sehnsucht nach Ordnung und Kontrolle, das Älterwerden, den Tod. In jeder Minute meines Lebens, so wie es jetzt ist, stecken alle vorherigen Minuten, man muss sie nur wahrnehmen und zu deuten wissen.
Du leitest zusammen mit Deiner Frau die Textmanufaktur, organisierst Tagungen, ein umfassendes Seminarprogramm und bist Vater von drei Kindern. Wie gelingt es Dir, das Schreiben da noch unterzubringen?
Das Schreiben ist eine Lebensaufgabe, und man muss ihm Raum geben, anders geht es nicht. Ich muss meinen Alltag, mein Leben so organisieren, dass ich Zeit zum Schreiben habe, jeden Morgen ein, zwei Stunden. Wenn ich mir diesen Raum nicht nehme, kann auch nichts passieren. Also nicht warten, bis was passiert und dann hinsetzen, sondern hinsetzen, dann passiert auch was. Natürlich habe ich auch Phasen, in denen ich mich intensiv um andere Dinge kümmern muss, aber dann schaue ich, dass ich mir eine Denkaufgabe mitnehme, es arbeitet immer in mir weiter.
André Hille, geboren 1974 in Osterburg/Altmark, gründete die Autorenschule „Textmanufaktur“. Zehn Jahre lang unterrichtete er Kreatives Schreiben und Lektorat, u.a. an den Universitäten Leipzig und Saarbrücken und am mediacampus Frankfurt. Er lebt mit seiner Frau und drei Kindern in Fischerhude. Im Herbst 2020 erschien sein erster Roman „Das Rauschen der Nacht“. Im Februar 2022 folgt sein zweites Buch „Jahreszeit der Steine“.