„Das persönliche Thema macht die Geschichte einzigartig.“

Der Dozent und Regisseur Wolfram Mayer-Schuchard spricht über Ängste als Kraftquelle fürs Schreiben, eigenmächtige Figuren und Plotten ohne Schema. 

Wolfram Mayer-Schuchard, Sie geben bei der Textmanufaktur Jahreskurse zum Thema „Stoffentwicklung“. Was für Stoffe entstehen da?
Viele wollen einen Entwicklungsroman schreiben. Es sind aber auch Autorinnen und Autoren von Fantasy dabei, von Krimis oder Detektivgeschichten. Einige arbeiten an Theaterstücken. Die Bandbreite ist also groß.

Braucht man wirklich ein ganzes Jahr, um den Stoff für ein Buch oder ein Stück zu entwickeln?
Ein Jahr ist eigentlich noch kurz. Nach meiner eigenen Erfahrung kann die Entwicklung eines Romans oder eines Drehbuchs durchaus auch längere Zeit in Anspruch nehmen. Im ersten halben Jahr des Kurses geht es darum, zu entdecken, auf welcher Grundlage man steht. Erst wenn ich das verstanden habe, sollte ich anfangen, Figuren und schließlich eine Geschichte zu entwickeln.

Warum ist es sinnvoll, sich für diesen Schritt so viel Zeit zu nehmen? 
Es gibt das bekannte Bild vom Eisberg, bei dem nur zehn Prozent sichtbar sind und die übrigen 90 Prozent unter Wasser liegen. So ähnlich ist es auch mit einer Geschichte und ihrem Fundament, dem persönlichen, emotionalen Thema. Es ist dieses Thema, das ein Buch wirklich einzigartig macht, es abhebt von anderen Büchern. Es bildet eine Grundlage, die dem Autor oder der Autorin beim Schreiben Sicherheit gibt. Wenn man nur auf die Geschichte oder die Figuren guckt, dann verliert man leicht den Boden unter den Füßen. Projekte werden gewechselt und viele Tausend Seiten landen im Müll. Um das zu vermeiden, versuchen wir im Jahreskurs, das unter Wasser liegende Gebilde erstmal zu verstehen und zu entwickeln.

Was für Themen können das sein, die das Fundament bilden?  
Es geht um meine persönliche Frage ans Leben. Das kann etwas ganz Einfaches sein, zum Beispiel: Bin ich glücklicher, wenn ich allein lebe? Ist mein Leben besser, wenn ich mich anpasse? So eine psychologische Frage kann auch mit einer gesellschaftlichen Frage verbunden sein, die mich umtreibt, zum Beispiel: Was hält eine Gesellschaft zusammen? Wenn ich diese Frage erforsche, bin ich bei meinem Thema, dem unter Wasser liegenden Kraftzentrum. Das ist der Resonanzraum für die Leserinnen und Leser. Die lesen die Geschichte und folgen dem Plot, aber sie spüren den riesigen Resonanzraum darunter – wenn er denn existiert. Ich glaube, es gibt einen großen Bedarf bei Autorinnen und Autoren, das eigene Thema zu ergründen.

So in die Tiefe zu gehen – ist das vor allem wichtig, wenn ich einen belletristischen Roman schreiben will?  
Bei Genreliteratur ist es genauso wichtig. Weil Krimi oder Fantasy bestimmten Schemata folgen, muss man hier emotional und persönlich werden, wenn man sich abheben will. Dabei sollte man auch unangenehme Gefühle nicht scheuen, sich mit seinem Schmerz, seinen Ängsten beschäftigen. Denn genau dort liegt die Kraftquelle für das Schreiben. Aus dem eigenen Thema entwickelt man das universelle Thema, das nicht nur einen persönlich, sondern auch andere Menschen berührt.

Wie entstehen aus diesem Thema die Figuren und wie wächst schließlich eine Geschichte daraus?
Im nächsten Schritt befassen wir uns mit der Struktur. Und die ist tatsächlich immer gleich: Eine Geschichte hat einen Anfang und ein Ende, eines ergibt sich aus dem anderen. Das unterscheidet sie von einer simplen Aufzählung. Dieses Prinzip entspricht der menschlichen Erfahrung: Wir werden geboren, wir sterben, dazwischen liegen viel Schmerz und viel Glück.

Arbeiten Sie beim Plotten mit einer bestimmten Technik, beispielsweise der Heldenreise oder dem Pyramidenmodell nach Gustav Freytag?
Solche Modelle greife ich auf, versuche aber so wenig schematisch wie möglich zu sein. Es geht nicht darum, einen bestimmten Ansatz formelhaft abzuarbeiten, sondern die Inspirationskräfte zu nutzen, die darin liegen. Die Modelle zeigen, welche archetypischen Kräfte im Leben der Menschen immer wieder eine Rolle spielen. So braucht beispielsweise jede Geschichte eine Krise, weil sonst keine Transformation möglich wäre. Diese universelle Struktur erlaubt unendlich viele Inhalte. Ich kann sie mit meinen eigenen Erfahrungen füllen.

Beginnen die Teilnehmerinnen und Teilnehmer dann, im nächsten Schritt, mit dem Schreiben ihres Textes?
Wir machen viele Schreibübungen, experimentieren. So entsteht viel Material, das so nicht im Buch landet, aber die Grundlage dafür schafft. Auch die Recherche ist natürlich wichtig, aber der kreative Prozess darf nicht darunter leiden. Statt zu Beginn zu sehr ins Detail zu gehen, ist es oft besser, Fakten zu überprüfen, wenn die erste Fassung schon steht. Es ist wichtig, dass der Text emotional entsteht und man beim Schreiben nicht intellektualisiert.

Ist es sinnvoll, den eigenen Text zuerst komplett zu plotten, also ein Handlungsgerüst zu erstellen?
Ich denke nicht, dass man alles planen sollte. Die Hauptfiguren haben eigene Stimmen, und mitunter sind sie diejenigen, die mit ihren Zielen und Bedürfnissen den Plot schaffen. Wenn das gelingt, dann braucht man nicht dieses „Malen nach Zahlen“, sondern kann sich selbst überraschen lassen. Das ist das große Ziel: Unsere eigene Geschichte zu erzählen, uns damit selbst zu überraschen und somit auch den Leser oder die Leserin.

In der neuen Jahresklasse „Intensivkurs Stoffentwicklung“ mit Wolfram Mayer-Schuchard sind noch Plätze frei. Der Kurs beginnt am 21. März 2023. Anmeldungen sind ab sofort möglich.

Wolfram Mayer-Schuchard ist Dozent, Diplom-Regisseur, Autor und Schauspieltrainer nach der Meisner-Technique. Er studierte Regie an der Filmakademie Ludwigsburg und lehrt seit 2011 am medienwissenschaftlichen Seminar der Universität Siegen. Mayer-Schuchard entwickelt Stoffe für Film und Fernsehen. Er gibt Seminare an öffentlichen und privaten Universitäten und Instituten.