„Erzählen ist die Kunst des Hineinfühlens in jemand anderen“

Ulrich Woelk, Foto: Bettina Keller
Foto: Bettina Keller

Der Schriftsteller Ulrich Woelk über die Nähe zu seinen Figuren, Tücken der Ich-Perspektive und die Freiheiten auktorialen Erzählens.

Ulrich Woelk, in Ihren Romanen schlüpfen Sie in die Haut ganz unterschiedlicher Menschen. Wie bekommen Ihre Figuren Farbe?  
Das sind Prozesse, die unbewusst ablaufen. Ich gehe die Straße entlang, und plötzlich ploppt eine Idee auf. Manchmal melden sich die Figuren gerade dann zu Wort, wenn ich nicht an sie denke.

Wie viel müssen Sie über Ihre Figuren wissen, damit Sie überzeugend von ihnen erzählen können? 
Ich kann nicht alles über sie wissen. Auch über reale Menschen wissen wir ja nie alles, letztlich nicht einmal über uns selbst. Menschen werden durch ihr Verhalten, ihre Reaktionen sichtbar. So ist es auch mit meinen Figuren: Sie definieren sich aus Situationen heraus. Es geht eher darum, was sie tun, als um ihre inneren Reflexionen. Als Autor hoffe ich natürlich, dass es gelingt, die Figur dadurch lebendig werden zu lassen. Dass der Leser sie für sich zusammensetzt und sagt: Jetzt sehe ich sie vor mir.

Einige Ihrer Romane sind aus der Ich-Perspektive geschrieben. Steckt in diesen Büchern mehr Autor-Ich als in personal oder auktorial erzählten? 
Zumindest nehmen viele Leser das an. Das merke ich an den Rückmeldungen, die ich bei Lesungen bekomme. Als ganz junger Autor war ich manchmal fast verärgert, weil ich den Eindruck hatte, dass meine kreative Leistung des Erfindens gar nicht gesehen wurde. Nach dem Motto: Man braucht nur ein interessantes Leben, um einen guten Roman zu schreiben. Das stimmt natürlich nicht. Aber die Annahme, dass es im Roman um das Leben des Autors geht, kann man auch als Kompliment nehmen. Sie ist ja ein Hinweis darauf, dass der Text  echt und überzeugend  wirkt. Diese Authentizität, die da beim Lesen empfunden wird, ist etwas Positives. Ich weise nur gern darauf hin, dass authentisch hier nicht gleichzusetzen ist mit autobiographisch.

Welche Vorteile bietet Ihnen die Ich-Form beim Erzählen?
So wie ich sie in meinen Romanen nutze, betont die Ich-Form tatsächlich die Nähe zwischen Autor und erzählender Figur. Wenn der Leser sich darauf einlässt, entsteht eine größere Nähe zur Figur als bei der personalen Perspektive. Vor allem verwende ich diese Perspektive aber als literarischen Kunstgriff. So zum Beispiel in meinem Roman „Der Sommer meiner Mutter“: Darin erzähle ich aus der Sicht eines elfjährigen Jungen   eine Geschichte im Jahr 1969. Wer nachrechnet, dem ist klar, dass ich 1969 ungefähr in diesem Alter war. Die Begeisterung über die erste bemannte Mondlandung, um die es in dem Roman auch geht, ist mir noch gut in Erinnerung. Es hat mir Spaß gemacht, beim Schreiben in die Zeit meiner Kindheit zurückzureisen. Aber der eigentliche Grund für die Wahl dieser Perspektive war ein anderer. Ich wollte den Leser durch die Augen eines Kindes auf die Ereignisse schauen lassen, die natürlich fiktiv sind. Wenn es um Liebe oder Sexualität geht, durchdringt der Elfjährige das noch gar nicht und versteht vieles nicht. Das fand ich sehr reizvoll.

Wie finden Sie die passende Erzählperspektive für einen Roman? 
Die Frage ist letztlich, was man erzählen will. Bei der Ich-Perspektive ist das erzählende Ich in der ein oder andere Form immer anwesend. Ein auktorialer Erzähler bietet mehr Flexibilität und eröffnet einen größeren Gestaltungsspielraum. Ich kann nicht nur in eine, sondern in viele verschiedene Figuren eintauchen.
In manchen Romanen wechsle ich auch zwischen auktorialer und personaler Perspektive: Mal schwebt der Erzähler praktisch über der Handlung, dann geht er sehr nahe an eine Figur heran, erzählt aus ihrer Sicht.

Kann ich als Autor authentisch aus der weiblichen – oder als Autorin aus der männlichen – Perspektive erzählen? 
Ja, natürlich geht das. Schreiben und Erzählen ist immer auch eine Kunst des Hineinfühlens in jemand anderen. Ich wüsste nicht, warum das Geschlecht dabei eine unüberwindbare Grenze sein sollte. Es gibt da nicht zwei getrennte Welten, zwischen denen eine riesig hohe Mauer steht. Es ist das Privileg eines Autors oder einer Autorin sich erzählerisch in jemand anderen hineinversetzen.

In der aktuellen Identitätsdebatte wird oft der Vorwurf kultureller Aneignung erhoben. Wie weit dürfen Autorinnen und Autoren gehen, wenn sie aus der Perspektive einer sozial oder kulturell weniger privilegierten Figur erzählen?
Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass es da keine Grenzen gibt. Autorinnen und Autoren dürfen über jeden oder jede schreiben, wenn sie das möchten. Die entscheidende Frage ist für mich: Gelingt es, die Geschichte der Figur so zu erzählen, dass es literarisch wahrhaftig ist? Dann ist es ein guter, ein überzeugender Roman – und darum geht es doch. 

Ulrich Woelk, geboren 1960, studierte Physik und Philosophie in Tübingen. Sein erster Roman, „Freigang“, erschien 1990 und wurde mit dem Aspekte-Literaturpreis ausgezeichnet. Woelk lebt als freier Schriftsteller und Dramatiker in Berlin. Seine Romane und Erzählungen wurden unter anderem ins Englische, Französische, Chinesische und Polnische übersetzt.