„Menschliche Grundeigenschaften sind zeitlos.“

Der Autor Michael Römling über Figuren im historischen Roman, einen wütenden Gandhi und warum authentische Dialoge aus dem 19. Jahrhundert eine Illusion sind.

Michael Römling, lebendige und glaubwürdige Figuren sind für einen Roman wichtig – auch wenn die Handlung 100 oder sogar 500 Jahren zurückliegt. Wie entwickeln Sie die?   
Bei gut dokumentierten Figuren gibt es ein Gerüst aus überlieferten Merkmalen, Eigenschaften und Handlungen, an die Sie sich halten können, wenn Sie wollen. Bisweilen kann es allerdings reizvoll sein, sich gerade nicht daran zu halten und stattdessen Facetten solcher Figuren herauszuarbeiten, die nicht verbürgt sind oder nicht zu dem Bild passen, das die Gegenwart sich von ihnen gemacht hat. Das wäre etwa ein Gandhi, der sich mit einem Wutausbruch einführt, oder ein Dschingis Khan, der erstmal als Kinderfreund auftritt.

Und wie sieht es bei erfundenen Figuren aus?
Da hat man freie Gestaltungsmöglichkeiten. Äußerlichkeiten von der Kleidung über die Frisur bis hin zu körperlichen Merkmalen sollte man natürlich durch Recherchen absichern. Bei den Charakteren dagegen sollten Sie keine Hemmungen haben, auf Erlebtes und Gehörtes zurückzugreifen, also Typen aus der Gegenwart zu verwenden. Menschliche Grundeigenschaften sind zeitlos: Es gab und gibt optimistische und pessimistische Menschen, witzige und sauertöpfische, scharfsinnige und stumpfsinnige. Zeitgeistbedingt ist lediglich der Ausdruck, den diese Eigenschaften sich suchen: Optimismus wurde im Mittelalter anders begründet als heute; Witzigkeit bediente sich kaum des heute üblichen inflationären Maßes an Ironie; Scharfsinn war noch nicht so deutlich an rationalen Methoden und Prinzipien von Beweisbarkeit geschult.

Können sich heutige Leserinnen und Leser mit authentischen historischen Figuren noch identifizieren?
Natürlich können Sie die Erwartungen des Publikums nicht vollständig ignorieren. Wer seine Leserinnen zum Lachen bringen will, muss einen Humor verwenden, der heute funktioniert, vor achthundert Jahren aber wahrscheinlich nicht funktioniert hätte. Und für einen historischen Krimi braucht man einen rationalen Ermittler wie William von Baskerville, sonst wird der Fall ja nie aufgeklärt.

Wie vermeide ich es, gegenwärtige Vorstellungen und Werte unkritisch auf die Vergangenheit zu übertragen?
Die Frage ist, ob man es überhaupt vermeiden will. In der Regel ist es ja so, dass unsere heutigen Vorstellungen und Werte in vielen wichtigen Bereichen des Lebens – etwa im Hinblick auf Sexualität, Gewalt oder Selbstbestimmung – denen vergangener Zeiten gegenüber als überlegen gelten, und das wohl auch zu Recht. Jetzt haben Sie im Prinzip drei Möglichkeiten, zwischen denen die Grenzen natürlich fließend sind. Erstens: Sie blenden die Diskrepanzen einfach aus und problematisieren nur, was sich damals wie heute in das gleiche Koordinatensystem von Gut und Böse einordnen lässt. Zweitens: Sie halten die Abweichungen aus und lassen die Helden ihre Kinder schlagen, abfällig über Homosexuelle reden und die Bedienung begrapschen, dann müssen Sie an anderen Stellen allerdings um so mehr für die Leseridentifikation tun. Drittens: Sie konstruieren Heldenfiguren, die heutige Moralvorstellungen vertreten, damit in der Zeit der Handlung aber zwangsläufig anecken. Der letzte Weg wird gerade von den populären Genretiteln gern beschritten.

Wie finde ich bei Dialogen den richtigen Mittelweg zwischen der Sprache der damaligen und der heutigen Zeit?
Kommt darauf an. Erstens darauf, wieviel Ihnen an Authentizität überhaupt gelegen ist, zweitens darauf, wie weit die Zeit der Handlung zurückliegt. Wenn Ihr Buch in den 1950er Jahren spielt, haben Sie Figuren, die mehr oder weniger reden wie wir heute. Lassen Sie Ausdrücke weg, die offensichtlich dem Slang späterer Jahrzehnte angehören, streuen Sie ein paar zeittypische Ausdrücke ein („famos“) und machen Sie es im zwischenmenschlichen Umgang ein bisschen steifer („Aber Vater!“), und es wird authentisch klingen.
Wenn Sie dann nochmal 50 Jahre zurückgehen, wird es schon schwieriger, weil es noch keine Tonaufnahmen gibt. Gehen Sie noch einmal 100 Jahre zurück, und Ihre Figuren müssten alle Dialekt reden, und noch einmal 500 Jahre, und Sie würden kein Wort mehr verstehen. Ich meine damit: Authentizität in der Figurensprache ist schon für das 19. Jahrhundert eine Illusion. Ich persönlich würde daher immer empfehlen, sich nicht zuviel mit einer möglichst authentischen Rekonstruktion der Figurensprache abzumühen, sondern sich darauf zu konzentrieren, die Rede der Figuren für deren Charakterisierung zu verwenden, zur Not auch auf Kosten der Authentizität. Also: Anstatt das, was gesagt werden soll, in eine imaginierte Kunstsprache der Vergangenheit zu übertragen, geben Sie jeder Figur eine wiedererkennbare Art zu sprechen.

Beim Blick in die Vergangenheit liegen Klischees nahe: der edle oder habgierige Ritter, der unterdrückte Leibeigene beispielsweise. Darf man die verwenden?
Ich würde grundsätzlich dazu raten, das Klischee zu vermeiden, doch an manche Helden oder Heldinnen werden gewisse Mindestanforderungen gestellt. Interessant ist, dass einige davon sich in den letzten Jahrzehnten geändert haben, andere trotz aller gesellschaftlichen Diskussionen über Rollen und Diversität dagegen nicht: Frauenfiguren sind von zerbrechlichen und hilflosen Wesen, die von männlichen Helden gerettet werden müssen, zu selbstbestimmten und selbstbewussten Protagonistinnen herangereift, aber attraktiv haben sie gefälligst immer noch zu sein.

Kann man mit solchen Klischees auch spielen?  
Ja, zum Beispiel, indem man entsprechende Bilder durch den Kakao zieht. Angenommen, Sie schreiben einen Wikingerroman. Lange Zeit trug der Klischee-Wikinger ganz selbstverständlich einen Hörnerhelm. In Wahrheit gab es diese Helme gar nicht, sie gehen auf eine Wagner-Inszenierung zurück und sind ein reines Phantasieprodukt. Spielen mit dem Klischee würde in diesem Fall bedeuten, dass Sie einen Wikinger mit Hörnerhelm auftreten lassen, der wegen dieser idiotischen Dekorationsidee von seinen Mitwikingern ausgelacht wird.
Da wir im Zeitalter der Ironie leben, hat das typisch postmoderne Spielen mit Klischees allerdings eine gewisse Routine erreicht und sollte nicht überreizt werden. Wenn Sie sich dafür entscheiden, sollten Sie auf jeden Fall auch etwas Eigenes und Originelles anzubieten haben, nicht nur das Klischee und sein Gegenbild.

Am Freitag, 27. Mai, auf der Autorentagung narrativa gibt Michael Römling den Workshop „Figuren in Historischen Romanen“. Hier geht es zur Anmeldung.

Michael Römling, geboren 1973 in Soest, studierte Geschichte in Göttingen, Besançon und Rom. Nach der Promotion gründete er einen Buchverlag, schrieb zahlreiche stadtgeschichtliche Werke und historische Romane. Der italienischen Renaissance fühlt er sich seit seiner Dissertation und einem achtjährigen Aufenthalt in Rom verbunden. Seine historischen Romane erscheinen bei Rowohlt.