Schreibtisch mit Aussicht

Schriftstellerinnen erzählen von ihrer Arbeit. Ein anregendes Buch für alle, die leidenschaftlich lesen oder selber schreiben.

„Ich schreibe nur“, heißt ein Essay der Schriftstellerin und Pulitzerpreisträgerin Anne Tyler. Er ist Keimzelle und Auftakt des Buches „Schreibtisch mit Aussicht“ und fast programmatisch für das, wovon 23 Schriftstellerinnen hier erzählen: Immer wieder geht es um das Glück zu schreiben und um die Zweifel am eigenen Tun.
Ob sie denn schon Arbeit gefunden habe oder immer noch nur schreibe, wird Anne Tyler auf dem Schulhof von einer anderen Mutter gefragt. Tyler reflektiert, wie sonderbar und wunderbar diese Tätigkeit ist – und wie wenig alltagstauglich: Geschichten zu erfinden und aufzuschreiben, während man vorher und nachher Hausaufgaben beaufsichtigt, die Kinder zum Turnen und den Hund zum Tierarzt bringt. 
Tylers Essay stammt aus den 1970er Jahren. Doch er ist heute genauso aktuell, witzig und wahr wie damals. Für die Herausgeberin des Buches Ilka Piepgras gab er den Anstoß, zeitgenössische Schriftstellerinnen von ihrer Arbeit erzählen zu lassen. Entstanden ist eine Sammlung ebenso unterschiedlicher wie inspirierender Texte. Sehr persönlich beschreiben die Autorinnen, was sie antreibt oder hemmt, was ihnen wichtig ist und wie sie zu denen wurden, die sie heute sind.
So erzählt Eva Menasse von ihrer Freude am Umschreiben und Herumspielen. Katharina Hagena blickt zurück auf die Anfänge ihres ersten Romans, die Angst davor, „nur“ Mutter zu sein und das wunderbare Gefühl von Schreibzeit am Stück. Antonia Baum widmet sich der Frage, ob das Etikett „Weibliches Schreiben“ eine Beleidigung ist – und wo das eigentliche Problem liegt. Elif Shafak reflektiert ihr Schreiben als Sprachnomadin zwischen Türkisch, Englisch, Französisch und Spanisch. Und Elfriede Jelinek führt ein ironisches Interview mit sich selbst.
„Schreibtisch mit Aussicht“ steckt voller kluger Gedanken übers Schreiben und das Leben als Schreibende. Dieses Buch zu lesen, ist ein bisschen wie Spazierengehen: Manche Sätze wecken Widerspruch oder lassen einen in unbekannte Winkel schauen, andere sind wunderbar vertraut oder stoßen etwas Neues an. Man möchte seufzen, lachen oder laut „ja, genau!“ rufen und den ein oder anderen Satz gleich als Bildschirmschoner speichern. „Schreibtisch mit Aussicht“ ist ein Buch für alle, die gern über Literatur nachdenken – und für Schreibende, egal welchen Geschlechts, sowieso.  

Ilka Piepgras (Hg.): Schreibtisch mit Aussicht. Schriftstellerinnen über ihr Schreiben, Verlag Kein & Aber, Zürich 2020