„Meine Erinnerungen immer scharf stellen.“

Eine ungewöhnliche Autobiographie hat die Autorin und Russlandkennerin Christiane Bauermeister geschrieben: In „Der gute Russentisch“ erzählt sie von der Kulturszene zur Vor- und Nachwendezeit in der damaligen Sowjetunion.

Russland ist derzeit vor allem als Staat in den Medien präsent, der Journalisten, Oppositionelle und andersdenkende Kulturschaffende unterdrückt. Sie haben Russland in den 1970er Jahren mehrfach bereist und darüber ein autobiographisches Buch geschrieben. Von was für einem Russland erzählen Sie?
Ich erzähle von den letzten Zuckungen des sowjetischen Imperiums, kurz bevor es dann mit Gorbatschows Politik der perestroika in die Knie ging. Zu meiner Zeit war der eiserne Vorhang ja noch undurchlässig, Reisen ins Ausland nur wenigen Privilegierten erlaubt, westliche Medien unerwünscht. Moskau konnte als Stadt recht trostlos sein: Leere Boulevars, leere Geschäfte, Privates spielte sich in den mehr oder weniger bescheidenen Wohnungen ab. Ende der siebziger Jahre hielt ich mich für längere Zeit im Rahmen eines Stipendiums des Deutschen Akademischen Austauschdiensts in Moskau und Leningrad auf und konnte über „Die Rolle der Frau in der russischen Avantgarde“ forschen und noch lebende Künstlerinnen interviewen. Eine große Freundschaft entwickelte sich mit Lilja Brik, sie war die Frau, der der bekannteste Dichter der Oktoberrevolution, Wladmir Majakowski, alle seine Gedichte gewidmet hatte. Lilija Brik führte mich in die Welt der Schriftsteller und Künstler ein. In ihrem Salon verkehrten auch Künstler, die von den sowjetischen Kulturfunktionären wenig geliebt wurden, wie zum Beispiel die Filmregisseure Sergej Paradschanow und Andrej Tarkowski, der Theaterregisseur Juri Ljubimow, der Komponist Alfred Schnittke.

Sie waren dann noch mehrmals in Russland …
Nach meinem Stipendium fuhr ich immer wieder in die Sowjetunion, konnte als „Russlandbeauftragte“ der Berliner Festspiele Künstler einladen und Gastspiele organisieren. Anfang der neunziger Jahre hatte sich unter Michail Gorbatschow und Boris Jelzin vor meinen Augen eine Art Raubtierkapitalismus entwickelt. Die Künste aber reagierten darauf mit einer ungeheuerlichen Vitalität, unbelastet von alten Ideologien. Private Galerien wurden gegründet, das literarische Leben boomte. Trotz zunehmender Repressionen im heutigen Putin-Russland spüre ich bei meinen Freunden und gerade bei jungen Künstlern eine Energie, eine Kraft, die ich mir aus der Geschichte Russlands über die Jahrhunderte erkläre: Das „Volk“ hält gegen den absoluten Machthaber zusammen, das „Wir“ ist in Russland stärker gebaut, wie es der Schriftsteller Viktor Schklowskij einmal formulierte.

Wie ist die Idee zu dem Buch entstanden?
Schon immer wollte ich meine diversen russischen Aufzeichnungen einmal sortieren. Der Kurs „Autobiographisches Erzählen“ der Textmanufaktur hat mich motiviert, meine Notizen, Interviews, Rundfunk- und Fernsehsendungen chronologisch zusammenzustellen. Im Laufe des Kurses ist mir das gelungen. Nach Prüfung des Materials ist mir dann klar geworden, dass ich da über eine doch recht einmalige Momentaufnahme der damaligen Zeit verfüge. Und daraus ist dann dieses Büchlein entstanden. Auch das Corona-Jahr hat dazu beigetragen, ich fand Zeit und Muße zum Schreiben. Die Form des Textes hat sich wie von selbst aus meinen Materialien entwickelt. Es ist eine Art „Chronologie der vergangenen Ereignisse“ geworden.

Und wie kam es zu dem Titel?
Der „Gute Russentisch“ bei Thomas Mann hat mich nie losgelassen. Ich bin im „Zauberberg“ auf ihn gestoßen: Im Speisesaal des Sanatoriums hoch über den Schweizer Bergen steht längs zur Veranda der „Gute Russentisch“, wo nur die „feineren Russen“ sitzen. Ich habe mir dann immer vorgestellt, alle meine russischen Bekannten und Freunde an einem großen gedeckten Tisch zu einem Gastmahl zu begrüßen.

Was war für Sie das Mühsamste beim Schreiben Ihres Buches?
Mich auf das Wesentliche zu konzentrieren, meine Erinnerungen immer scharf zu stellen, nicht in einen Plauderton und den Klischees über die unergründliche russische Seele zu verfallen, exotische Russen-Folklore draußen zu lassen.

Und was hat Ihnen am meisten Spaß gemacht?
Ich habe meine gesamte russische Bibliothek durchforstet, habe erstmalig in Büchern und Katalogen geblättert, die mir russische Schriftsteller und Künstler damals geschenkt haben, habe darin wunderbare Sätze und Widmungen entdeckt, die ich vorher nie gelesen habe.

Wie haben Sie für dieses ungewöhnliche Projekt einen Verlag gefunden?
Auch das hat sich zufällig ergeben, ich bin über Jahrzehnte mit dem Transit-Verlag freundschaftlich verbunden, es ist mir gelungen, sie von der Besonderheit, ja vielleicht auch Einmaligkeit meiner russischen Erlebnisse in jenen Jahren zu überzeugen.

Christiane Bauermeister studierte Slawistik in Berlin. Ab Ende der 1970er Jahre reiste sie als „Russlandbeauftragte“ der Berliner Festspiele und als freie Kuratorin immer wieder in die damalige Sowjetunion. Sie organisierte große Ausstellungen und Veranstaltungen zur russischen Kunst der Avantgarde, unter anderem in Berlin, Amsterdam, New York, Wien und Moskau und schrieb zahlreiche Beiträge zu Katalogen. Zudem arbeitete sie für Funk- und Fernsehanstalten und ist Autorin von Reiseführern über osteuropäische Länder. Christiane Bauermeister lebt in Berlin. Ihr Buch Der gute Russentisch“ ist im Transit Verlag erschienen.

Am 16. Oktober beginnt wieder ein Online-Kurs zum Thema „Vom Ich zum Stoff. Autobiographisches Erzählen“ mit Gesina Stärz bei der Textmanufaktur.