„Ich muss ein Gefühl für die Figur haben.“

Die Schriftstellerin Franziska Gerstenberg erzählt, wie aus literarischen Figuren Menschen werden und warum Spazierengehen und Duschen fürs Romanschreiben wichtig ist. 

Franziska Gerstenberg, derzeit läuft Ihr Online-Kurs zur Figurenentwicklung bei der Textmanufaktur. Wie ist das mit den literarischen Figuren – müssen wir sie erfinden oder nur finden? Oder finden die Figuren womöglich sogar uns?
In den allermeisten Fällen wird beides nötig sein: Das Finden und das Erfinden. Am Anfang steht vielleicht eine Beobachtung im Alltag oder ein spontaner Einfall. Aber danach kommt die Arbeit: das bewusste Erfinden. Wichtig ist dann nur, die mühsam erfundene Figur auch wieder loszulassen, damit sie lebendig werden und sich im Text weiterentwickeln kann. So richtig lernen wir unsere Figuren nämlich erst kennen, wenn sie in der Geschichte herumlaufen, wenn sie sich streiten oder sich verlieben oder auch einfach nur einen Topf Rosenkohl kochen.

Für den Leser sollen die Figuren lebendig und greifbar werden. Kann ich als Autorin auch zu viel über eine Figur verraten?
Auf jeden Fall! Einmal auf der Spannungsebene: Wenn uns die Figur nicht mehr überraschen kann, weil wir schon alles über sie wissen, werden wir uns beim Lesen schnell langweilen.
Ich würde auch grundsätzlich zu einer gewissen Sparsamkeit raten: lieber wenige Details auswählen, von denen ausgehend die Leserinnen und Leser die Figur im Kopf selbst gestalten und „rund“ machen können. Zu viele vielleicht sogar widersprüchliche Informationen haben den gegenteiligen Effekt: Die Figur wird schwammig und schlechter zu greifen.

Manche Autorinnen und Autoren arbeiten mit Figuren-Steckbriefen. Muss ich wirklich wissen, was meine Figur am liebsten isst und welche Lieblingsfarbe sie hat – auch wenn das in der Geschichte gar keine Rolle spielt?
Wenn ich mit einem Figuren-Steckbrief arbeite, konzentriere ich mich instinktiv auf die Punkte, die für den Text eine Rolle spielen könnten. Ein umfangreicherer Steckbrief kann aber eine gute Herangehensweise sein, wenn man mit einer Figur Schwierigkeiten hat, sie einfach nicht zu fassen bekommt. Dann hilft es, auch scheinbar abseitige Fragen zu stellen: Wie grüßt meine Figur die Nachbarn? Was kauft sie im Supermarkt? Was versteckt sie in der untersten Kommodenschublade? So entsteht mehr Nähe.

Wie machen Sie das, wenn Sie Figuren entwickeln – führen Sie Gespräche mit Ihren Figuren, die Sie dann aufschreiben, suchen Sie nach passenden Fotos im Internet?
Bei mir persönlich ist es so, dass ich ein paar grundlegende Fakten wissen muss, bevor ich mit dem Schreiben beginne. Und, noch viel wichtiger: Ich muss ein Gefühl für die Figur haben. Das bekomme ich oft, wenn ich spazieren gehe oder zum Beispiel dusche. Ich denke dann: Ah! So einer ist das! Dieses Gefühl kann noch vage sein – aber ganz ohne geht es nicht. Dann muss ich eben noch mehr spazieren gehen oder duschen.
Richtig konkret werden meine Figuren erst im Schreibprozess. Hier versuche ich, wirklich in sie hineinzugehen. Was fühlt die Figur in diesem Augenblick? Was würde sie jetzt sagen oder tun? Ich lasse mir dabei Zeit, um der Figur nicht einfach einen Plot überzustülpen, den ich mir vorher überlegt habe.

Woran merken Sie, dass eine Figur stimmig ist?
Wenn eine Figur mir selbst nicht mehr ausgedacht vorkommt – dann stellt sich diese Frage erfahrungsgemäß auch für die Leserinnen und Leser nicht mehr. Dann ist die Figur keine Figur mehr, sondern ein Mensch.

Worauf sollten wenig geübte Autorinnen und Autoren besonders achten, wenn sie Figuren entwickeln, und was sollten sie besser vermeiden?
Wir müssen lernen, loszulassen. Es ist nicht möglich, den Leserinnen und Lesern immer ganz genau zu erklären, wie wir die Figur meinen. Es wird niemals passieren, dass dann alle dieselbe Frau oder denselben Mann im Kopf haben. In jeder Geschichte stecken viele Lesarten.

Franziska Gerstenberg, 1979 in Dresden geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und lebt heute in Leipzig. Sie erhielt zahlreiche Stipendien und Literaturpreise, darunter den Hermann-Hesse-Förderpreis sowie 2016 den Sächsischen Literaturpreis. Ihr erster Roman Spiel mit ihr wurde mit einem Stipendium der Akademie Schloss Solitude in Stuttgart sowie dem Förderpreis zum Lessingpreis ausgezeichnet. Ihre Erzählbände und Romane erscheinen im Schöffling Verlag.