Sascha Michel, Lektor bei S. Fischer, spricht über literarische Erfolge und warum dafür realistisches Erzählen und ein Gespür für das „Herz der Kultur“ wichtig sind.
„Literarische Erfolge und ihre textuellen Voraussetzungen“, so ist Ihr Vortrag beim Autorensalon der Textmanufaktur überschrieben. Wann ist ein literarischer Roman aus Ihrer Sicht erfolgreich? Zeigt sich das an den Verkaufszahlen oder an der Rezeption im Feuilleton?
Im Idealfall zeigt es sich natürlich an beidem: an guten, sorgfältig argumentierenden Besprechungen und interessanten Feedbacks, nicht nur im Feuilleton, UND an den Verkaufszahlen. In der Realität ist es allerdings oft entkoppelt: Tolle, große Besprechungen schlagen sich längst nicht mehr in Verkaufszahlen nieder, und es gibt Bestseller, die im Feuilleton kaum eine Rolle spielen. Wichtig ist eine realistische Einschätzung der möglichen Erfolgswege, bevor die Bücher in der Welt sind. Bei bestimmten literarischen Titeln ist völlig klar, dass es dafür nur einen begrenzten Markt gibt. Ich freue mich dann schon, wenn ich eine Kritik lese, die halbwegs auf dem Niveau ihres Gegenstandes ist und mich mit neuen Gedanken zum Text überrascht. Oder wenn es gelingt, dass ein Buch, das kein Roman ist, also etwa ein toller Essay oder ein Gedichtband, in die zweite Auflage geht.
Wenn Sie auf die literarischen Erfolge schauen, die Sie bisher begleitet haben: Gibt es da textuelle Gemeinsamkeiten?
Die Erfolge bei Autorinnen und Autoren wie Günter de Bruyn, Roland Schimmelpfennig oder Ruth Schweikert, die ich unter anderen begleitet habe, gingen mit völlig unterschiedlichen Texten einher und verdankten sich in der Regel wichtigen Nominierungen, etwa beim Preis der Leipziger Buchmesse oder beim Schweizer Buchpreis. Wir alle im Lektorat suchen darüber hinaus literarische Titel mit einem Erfolgspotential, das nicht von der Willkür wichtiger Jurys abhängig ist, sondern primär über den Buchhandel funktioniert. Ulrich Tukur mit seinem ersten Roman bei S. Fischer ist dafür ein Beispiel. Da gibt es meines Erachtens durchaus textuelle Gemeinsamkeiten mit anderen erfolgreichen Büchern.
Welche Gemeinsamkeiten sind das?
Bei literarischen Bestsellern, die sich allein dem Markt und nicht den großen Buchpreisen verdanken, sind auf der Textebene immer wieder ähnliche Phänomene zu beobachten. Sieht man von den eher popkulturellen Fällen wie Wolf Haas oder Christian Kracht ab, deren Erfolge vor allem mit der Partizipation der Leserinnen und Leser an einer bestimmten Stilgemeinschaft zu tun haben, sind die meisten Bestseller im literarischen Feld aus meiner Sicht durch drei Merkmale gekennzeichnet: Sie sind erstens ausnahmslos realistisch erzählt und weisen eine eingängige, nicht allzu komplizierte Narration auf; sie haben zweitens anders als reine Genre-Erfolge eine besondere Lizenz für Krisen und „schwere Zeichen“ (Jean Baudrillard) – vom Dreißigjährigen Krieg bei Kehlmann bis zum Trauma bei Yanagihara –; und sie geben uns drittens durch bestimmte Referenzen das Gefühl, dass wir das „Herz der Kultur“ schlagen hören. Auf den letzten Aspekt hat Umberto Eco in einem großartigen Aufsatz schon in den 1960er Jahren hingewiesen; sein Name für solche Erfolge war „Midcult“. Diese drei Aspekte sind aber alles andere als Trends, sondern eigentlich ziemlich alte Textstrategien, die es seit dem Poetischen Realismus im 19. Jahrhundert gibt. Was das angeht, hat sich gar nicht so viel verändert.
Welche Rolle spielt die Sprache für den Erfolg eines Buches – und welche das Thema?
Da erfolgreiches realistisches Erzählen – idealtypisch gesprochen – nicht an der Spürbarkeit der Zeichen, sondern an gelingenden Referenzillusionen interessiert ist, könnte man sagen, dass Sprache bei erfolgreichen Büchern per se nicht so wichtig ist. Im Vordergrund stehen eindeutig die Themen und Identifikationsangebote, auch serielle Effekte, wenn man an Ferrante oder Meyerhoff denkt, und nicht zuletzt auch einfach die Prominenz der Autorinnen und Autoren, die sich vorangegangenen Erfolgen oder zum Beispiel der Popularität in anderen Medien wie Film und Fernsehen verdankt. Dennoch gibt es natürlich einen großen auch sprachlichen Unterschied zwischen Kehlmann oder Ransmayr und, sagen wir, Dan Brown. Das hat dann zum Beispiel mit der Differenziertheit von Details, mit einem überraschenden, originellen Vokabular oder dem besonderen Rhythmus der Sätze zu tun.
Rezensenten und Jurys kritisieren oft, in der zeitgenössischen Literatur fehle das Originelle, der Mut, etwas ganz Neues zu erproben. Beobachten Sie das auch?
Überhaupt nicht! Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur gehört für mich zum Lebendigsten, Wachsten und Mutigsten, was diese Gesellschaft zu bieten hat – vor allem im Vergleich zu all dem Stillstand und all den Backslashs, die man sonst so beobachtet. Ob die radikaleren, riskanteren Texte auch auf den Radarschirmen der Rezensenten und Jurys auftauchen, ist eine andere Frage. Aus Lektoratsperspektive würde ich sagen: Es gibt zum Glück eine Fülle an originellen, mutigen Texten, und es ist unsere Aufgabe, für eine Kultur zu kämpfen, in der eine solche Vielfalt möglich ist. Man braucht aber als Publikumsverlag eben auch gute Bücher, mit denen man das nötige Geld für die Querfinanzierung verdienen kann.
Was sollte ein Debütautor beim Schreiben seines ersten literarischen Romans unbedingt beachten?
Klar, Vernetzung und Selbstvermarktung sind heute wichtiger denn je. Trotzdem sollte man – auch hier im Grunde ganz altmodisch – beim Schreiben so wenig wie möglich schielen, auf Erfolg, auf Trends, auf Vorbilder, sondern so konzentriert wie möglich der Eigenlogik des Textes, den Besonderheiten seiner Figuren und Perspektiven, dem eigenen Ton folgen.
Sascha Michel lebt in Frankfurt am Main und arbeitet seit 2004 als Lektor für Literatur im S. Fischer Verlag. Er betreut das Gesamtwerk von Ilse Aichinger, Alfred Döblin, Heinrich Mann und Robert Gernhardt und arbeitet unter anderem mit Autorinnen und Autoren wie Anita Albus, Günter de Bruyn, Uwe Kolbe, Olga Martynova, Monika Rinck, Ulrich Peltzer, Roland Schimmelpfennig und Ruth Schweikert zusammen. Seit 2015 unterrichtet er als Dozent bei dem Fortbildungsprogramm Buch- und Medienpraxis an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sascha Michel hat zahlreiche Anthologien herausgegeben und schreibt für Reclam zur Zeit an einem längeren Essay zum Thema Lesen – Arbeitstitel: „Die Unruhe der Bücher“.