„Irland nimmt seine Autorinnen und Autoren ernst.“

Anglistik-Professorin Katharina Rennhak über Staats-Romanciers, Sex im Roman und mutige Verlage. 

Die irische Gegenwartsliteratur blüht und feiert auch international Erfolge. Was sind das für Autorinnen und Autoren, die derzeit im Rampenlicht stehen?  
Es fällt auf, dass unter den bekannten irischen Schriftstellern heute sehr viele Frauen sind, beispielsweise Anne Enright, die mit ihren Büchern schon seit mehreren Jahren international erfolgreich ist oder Anna Burns, die mit ihrem Roman „Milkman“ 2018 den renommierten Booker Prize gewonnen hat.

Spielen Schriftstellerinnen und Schriftsteller in Irland eine wichtigere Rolle als beispielsweise bei uns, in Deutschland?
Ja, Irland nimmt seine Autorinnen und Autoren sehr viel ernster. Seit 2015 wird ein Laureate for Irish Fiction gekürt, also eine Art Staats-Romancier. Von 2015 bis 2017 war das Anne Enright, die sich immer wieder in die öffentliche Diskussion einbringt. Das wird von den Laureates auch erwartet. Aktuell ist Sebastian Barry Laureate for Irish Fiction. Dass so eine Institution geschaffen wurde, ist sicherlich auch eine Marketingentscheidung, um die großen irischen Schriftsteller international noch prominenter zu platzieren. Aber es zeigt auch, dass der Staat die Autorinnen und Autoren ernst nimmt, wenn es um aktuelle gesellschaftliche Diskussionen geht.

Welche Themen stehen im Mittelpunkt, und wie verarbeiten die Autorinnen und Autoren sie literarisch?
Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in den 1990er Jahren sind viele soziale Veränderungen einher gegangen. Die katholische Kirche hat an Einfluss verloren, gleichzeitig hielt eine westeuropäische Sexualmoral Einzug. 1992 wurde der Verkauf von Verhütungsmitteln legalisiert, Homosexualität 1993. Die Scheidung wurde 1995 ermöglicht. Das setzt sich bis in die Gegenwart fort, aktuell mit einem Referendum, das 2018 das Abtreibungsverbot gekippt hat. Solche Themen haben die Romanschriftsteller schon früh aufgegriffen, sie nicht nur begleitet, sondern auch in ihren Texten kreativ mitgestaltet. In den Romanen geht es um Themen wie Sexualität und Körperlichkeit, darum, wie man Familie in einem neoliberalen, globalen Zeitalter gestalten kann oder welche neuen Formen von Individualität es in einem solchen gesellschaftlichen Kontext geben kann. Neben den Romanen Enrights und Barrys haben in jüngster Zeit insbesondere Sally Rooneys Bestseller „Gespräche mit Freunden“ („Conversations with Friends“) und „Normal People“ (dt. Übers. in Arbeit) einen Nerv getroffen. Sie bringen das Lebensgefühl und die Probleme der Millennials besonders eindrücklich auf den Punkt. Die vielleicht größten Wagnisse geht June Caldwell in ihren Kurzgeschichten ein. „Somat“ etwa nimmt die unmögliche Abwägung zwischen dem Wert des Lebens der Mutter und des Lebens des ungeborenen Kindes aus der Perspektive eines Embryos vor. Als weiteres wiederkehrendes Thema kommt aktuell die Flüchtlingsproblematik dazu. Vor dem Hintergrund der eigenen Fluchtgeschichte – aus Irland sind im Laufe der Jahrhunderte ja viele Menschen vor Verfolgung und Hunger geflohen – setzen sich Autoren und Autorinnen aktiv damit auseinander. Donal Ryan zum Beispiel verknüpft in „From a Low and Quiet Sea“ das Schicksal eines syrischen Flüchtlings mit den Biographien irischer Protagonisten auf eine so wunderbare Art und Weise, dass Jonathan Franzen in einer Sammelrezension in „The Guardian“ darüber nachdenkt, ob wir „in einem goldenen Zeitalter der Literatur“ leben.

Treffen die irischen Autorinnen und Autoren mit diesen Themen auch international einen Nerv?
Ja, sie verhandeln sicherlich die Probleme, die jetzt allen unter den Nägeln brennen. Ich denke, darum ist die irische Gegenwartsliteratur international auch so erfolgreich. In Irland haben sich in den vergangenen Jahren gesellschaftlich einige Dinge nochmal zugespitzt – durch den wirtschaftlichen Aufschwung, dann die Finanzkrise. Das mag den Kreativitätsschub ausgelöst haben.

Welche Literaturformen nutzen die Autoren? Ist die irische Gegenwartsliteratur eher experimentell oder leicht lesbar?  
Viele irische Autorinnen und Autoren experimentieren mit narrativen Formen. Zum Teil ist das schon anspruchsvolle Literatur, die mit vielen Zeitsprüngen arbeitet, oder mit Bewusstseinsdarstellungen, wie in Eimear McBrides Roman „A Girl is a Half-formed Thing“. Auch „Solar Bones“ von Mike McCormack ist ein experimenteller Roman, da er nur aus einem Satz besteht. McCormack findet aber einen Weg, uns dennoch in seinen Bann zu ziehen. Auch „Milkman“ von Anna Burns ist durchaus anspruchsvoll. Hier folgen die Leserinnen und Leser keinem Bewusstseinsstrom sondern eher dem Redefluss einer Frau, die nach jahrzehntelangem Schweigen endlich ihre traumatischen Erfahrungen als junge Frau im bürgerkriegsgeschüttelten Nordirland in Worte fassen kann. Dabei bietet „Milkman“ auch viele durchaus lustige, oft tragikomische Momente. Andere Autoren experimentieren mit der Grenze zwischen Kurzgeschichtensammlung und Roman. Ich denke, das sind alles mehr oder weniger experimentelle, dabei aber immer gut lesbare Bücher, die aktuelle Themen erzählerisch so behandeln, dass man mit einem neuen Blick auf unsere Welt schauen kann.

Gibt es so etwas wie eine Erfolgsstrategie der zeitgenössischen irischen Schriftstellerinnen und Schriftsteller?
Ich glaube, auf eine einfache Formel lässt sich das nicht bringen. Vielleicht ist es die Erfolgsstrategie, sich nicht von vornherein auf eine Gattung festzulegen, sondern zu versuchen, ein dringliches Problem so abzubilden, dass die narrativen Strukturen dem Thema gerecht werden. Natürlich bedienen sich die Autorinnen und Autoren dabei auch traditioneller Gattungsmuster, aber – die erfolgreichen zumindest – tun das niemals sklavisch.

Deutsche Autorinnen und Autoren beklagen oft, dass es schwer ist, einen Verlag zu finden, wenn der eigene Text die Gattungsgrenzen überschreitet. Ist das in Irland anders?
In den vergangenen zehn Jahren – also in der Zeit nach der Finanzkrise – hat sich in Irland eine neue Landschaft aus zahlreichen kleinen Verlagen entwickelt. Viele davon haben erfolgreich gearbeitet, ihre Nachwuchsautorinnen und -autoren ernst genommen und ihnen eine Plattform gegeben. Einige Verleger betreiben das eher im Nebenberuf, andere sind inzwischen auch wirtschaftlich erfolgreich. Diese neue Verlagsstruktur hat das Erscheinen vieler neuer irischer Romane, die heute bedeutsam sind, erst ermöglicht.

Katharina Rennhak lehrte bis 2007 Englische Literaturwissenschaft an der Ludwig Maximilian-Universität München. Im Jahr 2004 war sie als Assistenzprofessorin zu Gast am English Department der University of Texas at Austin. Seit 2009 ist sie Professorin für Englische Literaturwissenschaft an der Bergischen Universität Wuppertal. Derzeit ist sie dort auch Direktorin des Zentrums für Erzählforschung.