Pandolfo – Über das Schreiben eines historischen Romans

Herr Römling, gerade erscheint Ihr – schon im Vorfeld hochgelobter – historischer Roman Pandolfo bei Rowohlt. Worum geht es?
Gar nicht so einfach, darauf zu antworten, ohne ins Klappentext-Gleis zu rutschen. Versuchen wir’s mal in aller Kürze: Es geht um einen jungen Mann, eben Pandolfo, der im Mai 1493 unweit des Mailänder Doms von dem Seidenmagnaten Bernardino Bellapianta mit eingeschlagenem Schädel gefunden und gesundgepflegt wird. Pandolfo, der die Geschichte aus seiner Erinnerung erzählt, kann zeichnen wie ein Gott, hat aber dummerweise sein Gedächtnis verloren und versucht nun herauszufinden, wer er in seinem bisherigen Leben gewesen ist, wer ihn so zugerichtet hat und warum. Parallel dazu wird in Rückblenden das Leben von Bernardino Bellapianta erzählt, der sein Imperium durch Handelsreisen in den Orient aufgebaut und dabei Beziehungen zum Hof des türkischen Sultans geknüpft hat. Daraus entwickelt sich eine Verschwörungsgeschichte, in die schließlich auch unser Pandolfo hineingezogen wird. Und dann findet er auch noch heraus, dass es schon in seinem früheren Leben eine Verbindung zwischen ihm und Bernardino Bellapianta gegeben hat

Die Recherche ist bei historischen Roman ein zentrales Element. Wie sind Sie dabei vorgegangen?
Schritt für Schritt. Erstens sind meine Bücher von der Struktur her eigentlich Krimis, weil es immer irgendwelche Rätsel zu lösen gibt. Damit diktiert der Spannungsbogen in hohem Maß den Aufbau des Plots, weil man den Lesern auf dem Weg zur Lösung ständig Informationen in dosierter Form servieren muss, und das zwingt zu entsprechenden Konstellationen: Die Figuren müssen immer wieder zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort zusammentreffen, die richtigen Gespräche führen und die richtigen Entdeckungen machen, ohne dass es erzwungen oder hingebogen wirkt. Ich bevorzuge personale Erzähler, und das macht die Sache noch einmal schwieriger, weil es in diesem Fall nur beschränkte Möglichkeiten gibt, dem Leser Informationen zukommen zu lassen, die der Erzähler nicht hat. Das alles führt dazu, dass man den Plot sehr genau planen muss, bevor man anfängt, sonst verrennt man sich in eine Geschichte, die dramaturgisch hinten und vorne nicht passt. Also entwerfe ich zu Anfang ein Handlungsgerüst.

Und wie sah die Recherche dann konkret aus?
Für die Einarbeitung schneide ich das Thema in Scheiben wie eine Wurst: Beschaffenheit des Schauplatzes zur besagten Zeit, politischer und gesellschaftlicher Hintergrund des Geschehens, biografische Daten prominenter Figuren und ähnliches. Das war bei Pandolfo wegen der vielen Schauplätze schon ziemlich umfangreich, und dann musste ich mich zusätzlich noch mit Geschichte und Technik der Seidenherstellung, den Gepflogenheiten am Sultanshof, mit Orienthandel, Flugmaschinenbau, Kanonenguss und Feuerwerk befassen. Dazu kamen immer wieder ganz konkrete Fragen nach dem Erscheinungsbild bestimmter Straßen und Gebäude, Kleidermode, Essgewohnheiten und Gebräuchen. Zum Glück gibt es hier in Göttingen eine der größten und besten Bibliotheken in Deutschland, denn anders als die meisten Leute glauben, kann man sich diese Informationen keineswegs alle aus dem Netz ziehen. Auch wenn die Digitalisierung voranschreitet, ist das im Prinzip immer noch Recherche wie für eine Abschlussarbeit: Ob elektronisch oder auf Papier, die Bücher und Zeitschriften müssen durchgeackert und kopiert werden, und auf diesen Kopien schmiere ich dann immer noch mit Textmarker herum. Alle brauchbaren Informationen kommen in eine große Textdatei, streng durchgegliedert und mit Belegstellen, damit ich alles wiederfinde.

Verändert sich dabei der anfangs entworfene Plot?
Ja. Währenddessen entwickelt sich der Plot weiter. Beim Zusammentragen der Informationen kommen einem oft neue Ideen, oder man stößt auf Personen, die man gern als Figuren auftreten lassen will und dann einbauen muss. Am Anfang tut sich da noch relativ viel, später dann immer weniger, weil einem das Thema vertrauter wird und man nur noch an Detailfragen arbeitet. Man könnte sagen, der Plot härtet langsam aus.

Die Arbeit am Text bleibt also lange Zeit sehr abstrakt?
Manchmal schreibe ich vor Abschluss der Recherchen schonmal das erste Kapitel, um mich einzustimmen und einen Ton für den Erzähler zu finden. Berichtet der eher knapp oder ausschweifend, eher nüchtern oder flapsig? Der Tonfall hat große Bedeutung für die Figur, und man sollte den richtigen gefunden haben, bevor man weitermacht. Und das muss man dann auch, denn meistens verbeißt man sich bei der Vorbereitung in so viele Detailfragen, dass die Zeit knapp wird. Also muss man die Recherchephase abschließen und mit dem Schreiben anfangen. Das ist bei mir immer ein bisschen zwiespältig: Einerseits freue ich mich darauf, weil das Buch endlich Gestalt annimmt, wie eine Skulptur, die man aus dem Stein meißelt: Man hat sie auch vorher schon vor sich gesehen, aber jetzt kann man sie anfassen. Das ist aber nicht nur befriedigend, und man weiß, dass es in den folgenden Monaten auch frustrierende Momente geben wird. Manchmal kaut man stundenlang auf ein paar Sätzen herum, beschließt dann, es übers Knie zu brechen, liest es hinterher durch und stellt fest, dass es nichts taugt. Und manchmal läuft die Handlung vor dem inneren Auge ab wie von selbst und man muss nur noch mitstenografieren. Diese guten Tage muss man nutzen. An den schlechten kann man es auch lassen. Allerdings – so geht mir das jedenfalls – sollte man auch nicht zu früh abbrechen. Manchmal erwischt man nach einigen Anstrengungen doch noch die Welle, die man reiten kann.

Sie sind selbst Historiker. Wie wichtig ist sind Ihnen belegbare Fakten in der Fiktion? Wie finden Sie das richtige Maß zwischen Fakten und Fiktion?
Das ist zum Haareraufen. Ich habe jahrelang Sachbücher zur Geschichte von Städten geschrieben, und da hängt bald an jedem zweiten Satz eine Fußnote. Aber so kann man keine Romane schreiben. Also muss der Geschichtenerzähler den Geschichtswissenschaftler bisweilen mehr oder weniger grob zur Seite stoßen. Zur Orientierung stelle ich mir immer die Frage: Hätte es so gewesen sein können? Kann man ein einschlägiges Handbuch zur Geschichte der Epoche oder des Schauplatzes lesen, ohne auf Widersprüche zur Handlung des Romans zu stoßen? Mich fasziniert die Vorstellung, dass meine erfundene Geschichte auch wahr sein könnte.

Wie weit würden Sie bei Abweichungen zugunsten der Fiktion gehen?
Irgendwo muss die Grenze zwischen Fakten und Fiktion nun einmal verlaufen. Ich würde niemals einen Papst oder König erfinden, aber ich erfinde wie selbstverständlich Bankiers, Künstler und Handwerker. Ich würde den Mailänder Dom nicht umbauen oder versetzen, aber eine kleine Kapelle irgendwo hinzustellen, weil ich sie für die Handlung brauche, bereitet mir keine Kopfschmerzen. Aber wo fangen die Kopfschmerzen an? Mit Bernardino Bellapianta habe ich eine Figur erfunden, die zu den reichsten Männern von Mailand gehört und sich von Donato Bramante – dem Donato Bramante – gegenüber der Kirche San Giorgio al Pozzo Bianco einen Palast aus dem Boden stampfen lässt, der den Herzog gelb und grün vor Neid werden lässt. Aber in den Quellen findet sich weder Bernardino Bellapianta noch sein Palast. Eigentlich müsste mich das stören. Dass es mich nicht stört, ist umso erstaunlicher, als ich bei der Aufnahme von Donato Bramante in die Geschichte darauf geachtet habe, dass er zur fraglichen Zeit in Mailand hätte gewesen sein können (zum Glück ist seine frühe Karriere nur sehr schlecht dokumentiert) und dass ich die Kirche San Giorgio al Pozzo Bianco bis hin zu der in die Fassade eingemauerten Statue so beschreibe, wie sie zur fraglichen Zeit wirklich aussah (wer das nachprüfen will, muss einen dreihundert Jahre alten Schinken ausgraben).

Ein erfundener Palast in Mailand?
Konsequent ist das nicht gerade. Aber am Ende muss die Geschichte funktionieren, und da bleiben manchmal die Fakten auf der Strecke, wobei ich versuche, den Schaden gering zu halten. Manchmal hilft aber nur Schönreden. Den Giftmord in Pandolfo habe ich mit einem Toxikologen besprochen. Leider sagte er nicht, was ich hören wollte: Ausgeschlossen, so der Experte, dass man um 1500 ein Gift hätte herstellen können, das genau so wirkt wie von mir beschrieben. Der Geschichtswissenschaftler in mir wollte daraufhin alles umschreiben. Der Geschichtenerzähler gab ihm einen Tritt in den Hintern und schnauzte: Das wird jetzt so gemacht! Irgendein verdammter Giftmischer hat es eben doch hingekriegt, das Zeug zusammenzurühren! Und, ja, auch das Gegengift! Wegtreten!

In den letzten Jahren erschienen zahlreiche literarische historische Romane, schon ein Blick auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises 2018 verdeutlicht das Interesse an anspruchsvollen historischen Stoffen – sehen Sie da einen Trend?
Ich bin wahrscheinlich nicht der Richtige, um diese Frage zu beantworten. Ich beobachte den Markt nicht so genau wie Agenturen, Verlage und Buchhändler. Außerdem: Was für einen Trend meinen Sie? Einen Trend von Autoren oder einen Trend des Marktes? Mit anderen Worten: Wenden sich derzeit mehr gute Autoren anspruchsvollen historischen Stoffen zu (weil sie nicht ständig aufs Neue die Befindlichkeiten ihrer eigenen Zeit protokollieren wollen) oder hat das historisch interessierte Publikum einen gesteigerten Hunger nach anspruchsvollen Stoffen (weil es nicht ständig aufs Neue mit Hebammen, Gauklern und Henkerstöchtern traktiert werden will)? Werden diese Bücher öfter besprochen, weil sie von guten Autoren geschrieben wurden, oder werden sie auch öfter verkauft? Auf diese Frage hätte ich auch gern eine Antwort, schon wegen der Planungssicherheit.
Eins ist zumindest auffällig: Wenn historische Bücher gute Besprechungen bekommen, dann oft auch deshalb, weil die in ihnen bearbeiteten Stoffe angeblich oder tatsächlich Parallelen zur heutigen Zeit aufweisen. Das wird so oft erwähnt und betont, dass man versucht ist, hier den eigentlichen Trend zu vermuten: den Trend zu historischen Büchern mit Aktualitätsbezug, woraus man dann – ich spekuliere da jetzt ein bisschen – ein gesteigertes Bedürfnis nach Gegenwartserklärung aus der Geschichte heraus ableiten könnte. Das wiederum könnte daran liegen, dass – und ich spekuliere jetzt noch ein bisschen mehr – die Gegenwartserklärung aus der Gegenwart heraus beim Publikum wegen der unübersichtlichen Masse an Positionen und Deutungen das Gefühl erzeugt hat, keine Erkenntnisgewinne mehr zu erzielen. Vielleicht macht das auch einen zusätzlichen Reiz aus: Beim historischen Geschehen weiß man, was herausgekommen ist. Sie liefern dem nach Antworten suchenden Leser auch gleich einen Ausblick darauf, wo das alles möglicherweise hinführen wird.

Michael Römling: Pandolfo
Rowohlt Verlag, 544 Seiten
ISBN: 978-3-498-09356-3
24 Euro