Nature Writing – Spiegelungen des Menschlichen

Ulrike Draesner (c) Heike Bogenberger

Nature Writing: „Spiegelungen des Menschlichen“
Die Schriftstellerin Ulrike Draesner über Gewitter bei Goethe, die faszinierende Sprache der Vögel und warum wir unserer menschlichen Sichtweise auch dann nicht entkommen, wenn wir versuchen, als Dachs zu leben.

Naturbeschreibungen gibt es in der Literatur seit jeher. Was fasziniert Autoren und Leser am „Nature Writing“?
Die Literatur hat einen großen Vorteil gegenüber allen Bildmedien. In der Fotografie oder im Film gibt es die Illusion, dass die Kamera etwas unmittelbar abbildet. Wenn man mit Worten etwas Bildliches beschreibt, ist ein vollkommen anderes Vorgehen nötig. Ich muss sie in Sprache übersetzen, diese Linde, diesen Hain oder den Augenblick, wenn die Venus-Fliegenfalle die Fliege einsaugt und frisst. Dabei entsteht das Bild noch einmal sprachlich und dann ein weiteres Mal im Leser. Man bekommt es mit einem gestaffelten Übersetzungs- und Erfindungsvorgang zu tun, der Interpretationen und Perspektiven mitgibt, Eigenheiten betont.

Geht es beim „Nature Writing“ um die Natur oder um den Menschen? 
Schaut man sich klassische Beispiele an, dient die Naturbeschreibung oft der Charakterisierung von Figuren. Goethes Werther und seine Lotte besuchen einen Ball, ein Gewitter zieht auf – dramatische Zuspitzung des Geschehens –, die beiden stehen am Fenster, der „Donnerschlag“ Kuss bleibt aus, regenfeucht wird nur die Natur. „Pathetic fallacy“ nennen die Briten diesen Vorgang: Irgendein armes „natürliches“ Wesen muss menschliche Eigenschaften verkörpern. Heutzutage erscheint uns das eher kitschig oder pathetisch. Mit „Nature Writing“ ist das sicher nicht gemeint. Es geht nicht darum, ein Entweder-Natur Oder-Mensch zu etablieren. Das eine ist doch nicht ohne das andere zu denken. Wechselseitiger Einfluss, gegenseitige Abhängigkeit, die Bedingungen und Chancen der Beziehung stehen im Mittelpunkt.

Schreiben Autoren heute anders über Natur?
Die Gründe, aus denen „Nature Writing“ heute interessiert, sind komplex. Sie haben sowohl mit dem Zustand unserer Umwelt, also mit aktuellen politischen, sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen zu tun, als auch mit den Veränderungen unserer Kommunikationsmedien. Ihre Allgegenwart rückt die Frage neu in den Fokus, wie es wäre, nicht über sie zu verfügen. Der britische Journalist Charles Foster beispielsweise hat versucht, für ein paar Wochen als Dachs zu leben und dann darüber geschrieben. Das Beispiel zeigt, welcher Traum „Nature Writing“ häufig beflügelt: Man möchte den Menschen hinter sich lassen. Paradoxerweise funktioniert das aber gerade hier am allerwenigsten: Hinterrücks wird einem sehr deutlich, was es heißt, ein Mensch zu sein, wenn man versucht, in der Erde zu leben und Würmer zu fressen. Tatsächlich geschieht dies so hinterrücks nicht: Zahlreiche Texte, die beim „Nature Writing“ entstehen, sind Spielgelungen des Menschen von einer imaginierten Kehrseite.

Um Natur geht es auch in vielen Sachbüchern. Gibt es da Berührungspunkte mit dem „Nature Writing“ in literarischen Texten?
Jede Art von wissenschaftlicher oder sachorientierter Auseinandersetzung ist ein hermeneutischer, historisch bedingter Prozess: Man liest Natur. Das ist mit Interpretationen und notgedrungen einem gewissen Maß an Fiktion verbunden. Auf der anderen Seite liegt dem literarischen „Nature Writing“ häufig ein starkes Interesse an dem zugrunde, was sich in unserer Welt beobachten, messen, mit wissenschaftlichen Hilfsmitteln erklären lässt. Die Trennung zwischen Sachbuch und Literatur ist, als strikte Trennung, ihrerseits Fiktion. Gerade im Bereich „Nature Writing“ lassen sich viele Vermischungsformen beobachten. Ich habe als Autorin häufig von sogenanntem Sachwissen profitiert. In meinem Gedichtband „subsong“ verbinden sich neuere Erkenntnisse der Ornithologie mit alten Versuchen der Menschheit, sich die Vogelsprache auszubuchstabieren. Der Philosoph Thomas Nagel hat den Satz geprägt, dass man, selbst wenn man alles über eine Fledermaus wüsste, was es zu wissen gibt, doch nicht wüsste, was es bedeutet, eine Fledermaus zu sein.

Kann Literatur herausfinden, wie es ist, eine Fledermaus zu sein?
Sie kann uns wissen lassen, was dieses „nicht“ bedeutet. Kann zeigen, welche Vorstellungen wir uns von der Andersheit der Fledermaus machen und was diese Vorstellungen für unser Selbstverständnis bedeuten. So dass wir die Differenz empfinden und uns in unserer Vorstellung der Fledermaus selbst erkennen. Ich glaube, dass es in zahlreichen Ansätzen des „Nature Writing“ letztendlich darum geht, unserer Einsamkeit zu entkommen. Wir müssen von Leben und Lebendigkeit umgeben sein, um Vorstellungen davon zu entwickeln, was unsere Lebendigkeit und unser Leben bedeuten könnten.

Dann benutzen wir die Natur und die Tierwelt als Spiegel, um eine Vorstellung von uns selbst herauszubilden?
Selbstverständlich. Wir sind spiegelnde Tiere. Aus unserem Wahrnehmungsapparat, unserer Sprache, unserer Denkweise können wir nicht herausspringen. Ständig erfinden wir „das Andere“, um uns in Bezug darauf zu verstehen. Natur war beziehungsweise ist eine der folgenreichsten westlichen Erfindungen dieses Anderen.

Suchen die Leser im „Nature Writing“ etwas Authentisches, eine möglichst direkte Erfahrung als Gegengewicht zu unserer medial geprägten Welt?
Was Leser suchen, wissen diese Leser selbst am besten. Ich lese Naturbeschreibungen aus vielerlei Gründen. Zum Beispiel mögen sie informieren – Landschaften zeigen, die es nicht mehr gibt. Oft lehren sie mich sehen. Sie verlangsamen meinen Blick, ich werde achtsamer. Und schätze nicht zuletzt die eine oder andere sprachliche Schönheit, auf die ich dabei stoße.

Kann „Nature Writing“ uns also für Natur sensibilisieren?
Als 17-jährige musste ich in der Schule einen Herbst hindurch Herbstgedichte lesen, zwei oder drei pro Woche. Lesen, weglegen. Mehr geschah nicht, bis ich zu meinem größten Erstaunen bemerkte, dass diese kleinen Dinger meine Wahrnehmung verändert hatten. Plötzlich roch der Herbst auf dem Schulweg wieder so intensiv wie in meiner Kindheit. Und an einem Zaun sah ich es: „Der Sommer stand und lehnte.“ Das war nicht einfach Sensibilisierung. Es hatte mit Glück zu tun, mit Bereicherung. In einem perfekten Bild durfte die Wirklichkeit, in der ich mich bewegte, neu erscheinen und leuchten.

Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, studierte in München und Oxford und lebt heute als Romanautorin, Lyrikerin und Essayistin in Berlin. Für ihr literarisches Werk hat Draesner zahlreiche Auszeichnungen erhalten. Sie gilt als eine der vielseitigsten und renommiertesten Autorinnen im deutschsprachigen Raum. Seit 2018 unterrichtet sie als Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. (Foto: Heike Bogenberger) http://www.draesner.de/

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